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Erwa, Jakob Moritz (Regie): Die Mitte der Welt
Schwul, verliebt, alleine gelassen?
Die Welt dreht sich trotzdem weiter!
von Lea Blume, Miriam Lohrmann, Michelle Schulze Langenhorst und Anna-Lena Vennewald  (2017)


Die Darstellung von Homosexualität bei Heranwachsenden stellt in Jugendfilmen immer noch durchaus ein Wagnis dar, das die Literaturadaption Die Mitte der Welt eingeht und durchaus meistert: Der Adoleszenzfilm erzählt insgesamt überzeugend vom bewegenden und chaotischen (Liebes-)Leben eines jungen Mannes, der auf viele harte Proben gestellt wird und letztendlich seinen Lebensmittelpunkt findet.

Der 17-jährige Phil (Louis Hofmann) und seine Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck) leben zusammen mit ihrer Mutter Glass (Sabine Timoteo), die jegliche Form von Anpassung ablehnt und einen sehr offenen Lebens- und Erziehungsstil pflegt, in einem alten, etwas heruntergekommenen, jedoch großzügigen Vorstadthaus. Als Phil gutgelaunt aus einem Sommercamp in Frankreich nach Hause zurückkehrt, erwartet ihn ein Szenario, das ihn schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt: Seine Mutter und seine Schwester Dianne reden kein Wort miteinander, Glass‘ aktuelle Beziehung ist fragil – und zudem weist Dianne ihren Bruder ständig ab. Phil lässt sich davon aber nur ein Stück weit beeindrucken und genießt die letzten sommerlichen Ferientage mit seiner besten Freundin Kat (Svenja Jung). Zu Beginn des neuen Schuljahres reißt den jungen Mann jedoch ‚etwas‘ ganz anderes aus der Spur: Nicholas (Jannik Schümann), der attraktive neue Mitschüler, stellt seine Gefühle und seine Welt auf den Kopf. Völlig verzaubert und überrascht stellt Phil fest, dass auch Nicholas interessiert an ihm ist. Der Startschuss zu einer intensiven Affäre ist gefallen. Lange lodert dieses Feuer jedoch nicht, und Phil stürzt in ein Chaos der Gefühle, aus dem er nicht alleine entkommen kann, nicht zuletzt deshalb, weil sich seine beste Freundin als weniger zuverlässig erweist, als sie zu sein scheint – zudem steht seine familiäre Situation kurz vor der Eskalation.

Die Mitte der Welt ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Andreas Steinhöfel (1998), die 2016 in den deutschen Kinos erschienen ist. Für Drehbuch und Regie zeigt sich Jakob M. Erwa verantwortlich, der seinen filmischen Fokus auf Jugend und Integration legt. Der außergewöhnliche Jugendfilm wurde u.a. mithilfe von verschiedenen Förderungen produziert; er konnte sich zahlreiche Auszeichnungen sichern, wie beispielsweise den Österreichischen Filmpreis 2017. Die insgesamt achtjährige Entstehungszeit des Films zeugt davon, dass das Werk auch für den Regisseur und Drehbuchautor Erwa eine besondere Bedeutung einnimmt.

Wo ist die Mitte der Welt?

Auf überspitzte, aber trotzdem emotional mitreißende Art und Weise versucht der Film, diese Frage zu beantworten. Mittels Zeitlupen, Flashbacks und Overlay-Montagen in Form von Emojis wird stellenweise ein Bildfeuerwerk erzeugt, das Phils jugendliches Erleben treffend visualisiert. Gerade wenn dessen Gefühlswelt näher beleuchtet wird, dienen Animationen von z.B. roten Herzen zur Untermalung; an anderer Stelle werden nur mit dem Finger auf die Haut gemalte Buchstaben wie von Zauberhand für die Zuschauer*innen sichtbar. Allerdings zieht sich dies nicht über die gesamte Länge des Films und bricht abrupt ab, sobald der Fokus weg von Phils kurzer Liebesbeziehung hin zu den zahlreichen, familiären Konflikten gelenkt wird. Hierbei hätte sich jedoch für das Beibehalten oder insgesamt aber für das Weglassen dieser (durchaus auch an amerikanische Teenager-Filme erinnernden) ästhetischen Mittel entschieden werden sollen, da durch die nicht gegebene Kontinuität ihre Relevanz in Frage gestellt wird.
Feingefühl bewies der Regisseur aber insbesondere bei der Darstellung der intensiven Sexszenen zwischen Phil und Nicholas. Dabei fallen besonders die wohlgewählten Nahaufnahmen beider Körper und ihrer Gestik und Mimik auf. Diese präzise Kameraführung findet sich auch beim Einfangen von Naturimpressionen sowie in der dramatischen Darstellung der familiären Konflikte wieder und erzeugt ein besonderes Gefühl der Nähe und des Miterlebens. Doch bleibt die Frage offen, ob die freizügige Darstellung sexueller Intimität schon für ein Publikum ab 12 Jahren geeignet ist. Darüber hinaus stellen die vielschichtigen Konfliktstränge eine weitere Herausforderung an die audiovisuelle Kompetenz der Zuschauer*innen dar. Allerdings plädiert „Die Mitte der Welt“ implizit für einen toleranten Umgang mit Homosexualität und kann auch als Beitrag gegen Homophobie verstanden werden – und ist nicht nur deshalb sehenswert. Insgesamt ist zu sagen, dass Erwas Adoleszenzfilm ein reiches Repertoire an alltagsnahen Konflikten und Problemstellungen abdeckt, die die Zuschauer*innen zum Nachdenken über die eigenen Wertehaltungen, familiären Normen und persönliche Konfliktlösungen anregen und sie gleichzeitig gut unterhalten.