Sammelrezension „Völlig normal?! – Familie in Kinderbüchern Christine Nöstlingers“
Nöstlinger, Christine: Sowieso und überhaupt / Einen Vater hab ich auch
Völlig normal?!
von Anja Knebel und Andrea Wassenberg (2001)
„Gibt es jetzt wieder Streit zwischen den Alten? Oder wird er auf morgen vertagt?“ Mit dieser Frage muss sich der 13-jährige Ani tagtäglich auseinander setzen. Denn eine „nicht harmonische“ Grundstimmung gehört im Hause Poppelbauer mittlerweile zum Alltag. Allerdings scheint sich zunächst nur Ani um den schief hängenden Haussegen zu sorgen. Die 15-jährige Karli dagegen nimmt die ständigen Streitereien der Eltern scheinbar gelassen hin und meint, dass Ani „sowieso und überhaupt“ alles viel zu schwarz sehe. Und dem siebenjährigen Speedi erscheint die familiäre Lage wohl völlig normal, denn schließlich hatte bei seiner Geburt die Langzeitkrise der Eltern schon längst begonnen. Nach Omas Ansicht ist Speedi quasi das „Ergebnis eines intensiven Versöhnungsversuches“. Als dann Ani aber herausfindet, dass sich sein Vater beim angeblichen Angelausflug einen jungen „Wilma-Fisch“ an Land gezogen hat, muss auch Karli ihre „rosarote Brille“ absetzen und den Tatsachen ins Auge sehen. Speedi, dem die Streitereien und die nie eingehaltenen Versprechen irgendwann zu viel werden, unterzieht die Eltern mit seinem Fluchtversuch in die Wohnung der Oma zwar einer „Schockbehandlung“, aber deren versöhnende Wirkung lässt schnell wieder nach. Denn der „Wilma-Fisch“ hängt noch am Angelhaken, Papa Poppelbauer entscheidet sich schließlich für ihn und verlässt die Familie ...
In dem heiteren, zum Nachdenken anregenden Familienroman Sowieso und überhaupt werden die durch Ehekrise und Scheidung entstehenden problematischen Veränderungen im Familienleben abwechselnd aus der Sicht der drei Poppelbauer-Kinder dargestellt. Die unterschiedlichen, sprachlich gekonnt realisierten Erzählperspektiven lassen ein facettenreiches, realistisches, aber nicht allzu bedrückendes Bild einer heute inzwischen als völlig normal geltenden Situation entstehen.
Dass die 1936 geborene und in Wien lebende Autorin ein Gespür für Themen hat, die Kinder und Jugendliche heute betreffen, zeigt sich auch in dem Roman Einen Vater hab ich auch. In ihrem unverwechselbaren Wiener Ton schildert sie hier das Leben der elfjährigen Feli. Diese bezeichnet sich selbst als „Drittel-Kind“, da sie zu dem Drittel von Kindern gehört, deren Eltern geschieden sind. Weil Feli bei der Scheidung aber noch sehr klein war, hat sie keine traurigen Erinnerungen an „dicke Luft“ und Streitereien. Überhaupt kommt sie gut klar als Kind „geteilter Eltern“: Sie lebt bei ihrer Mutter in Wien, kann aber ihren Vater immer sehen, wenn sie möchte und seine Zeit es zulässt. Als die Mutter eines Tages einen tollen Job in München annehmen möchte, ist es mit dem bisher gewohnten Leben vorbei. Feli möchte auf keinen Fall die Mutter nach München begleiten und damit ihre Freunde, den Vater und ihre große Liebe Lorenz aufgeben. Ihr Versuch, sich beim Vater einzuquartieren, scheitert zunächst an dessen Unwillen, auf die Vorzüge seines Junggesellenlebens zu verzichten. Nach einigem Hin und Her erklärt er sich aber doch bereit, mit Feli einen Wohnversuch zu wagen. Schon bald wird der Tochter allerdings klar, dass es Seiten an ihrem Vater gibt, die sie bisher noch nicht kannte. Und die betreffen nicht nur sein Liebesleben ...
Wie auch andere Erzählungen Nöstlingers gewinnen die beiden Romane ihren Charme besonders durch die Darstellung der Kinderfiguren. Diese haben in der Regel alle eines gemeinsam: Sie sind sehr selbstbewusst und bestimmen entsprechend aktiv handelnd den Fortgang der erzählten Geschichte, was gerade für junge Leser ermutigend sein kann.
So stellen in „Sowieso und überhaupt“ die drei Poppelbauer-Kinder ihre Eltern zur Rede und verlangen Auskunft, wieso es zur Trennung gekommen ist. Und Feli lässt die Erwachsenen in „Einen Vater hab ich auch“ nicht einfach über ihren Wohnort entscheiden, sondern versucht – bei allem Verständnis für die Interessen der Eltern – ihre eigenen Vorstellungen umzusetzen. Sie sieht ihre Rolle als „Kind geteilter Eltern“ nicht nur negativ, sondern ist sich sogar „gewisser Vorteile“ bewusst, etwa wenn sie beide Elternteile gegeneinander ausspielt, um ihre Absichten durchzusetzen.
Nöstlinger erzählt bevorzugt aus der Sicht der Kinder. Hierdurch schafft sie dem Leser Raum für Identifikationen und Projektionen. Die Originalität ihrer Texte kommt zum einen durch das zügige Erzähltempo, zum anderen durch ihre typischen sprachlichen Ausdrucksmittel zustande. Der durchgängig witzig-wienerische Ton, aber auch ein gewisses Maß an Ironie und Sarkasmus sorgen dafür, dass die oft unschöne Wirklichkeit ihrer Protagonisten niemals zu bedrückend wirkt.