Sammelrezension „Leenas (Zeit-)Reise – Eine Großfamilie in Finnland“
Lembcke, Marjaleena:Mein finnischer Großvater / Die Zeit der Geheimnisse / Der Sommer, als alle verliebt waren / Als die Steine noch Vögel waren / Und dahinter das Meer / Abschied vom roten Haus
Leenas (Zeit-)Reise
von Andrea Breuer und Traudl Bünger (2001)
„Das ist also die kleine Tirlittan!“ Leena ist vier Jahre alt, als Großvater Juho sie mit diesem Kosenamen begrüßt. „Mein finnischer Großvater“ ist das erste von sechs Büchern, in denen Marjaleena Lembcke von einer Großfamilie in Finnland erzählt. Die Reihe endet mit „Abschied vom roten Haus“, Leena ist mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen. Dazwischen liegen 13 Jahre im Finnland der 50er/60er Jahre und die Geschichte einer Familie, in der jedes der zehn unterschiedlichen Mitglieder seinen Platz findet.
Seinen Platz in Leenas Zuhause muss der geliebte Großvater zu ihrem großen Kummer aufgeben und seinen Besuch abbrechen, als Leenas Bruder Oskari geboren wird, denn das Haus ist klein und der Raum beengt. Die innige Freundschaft zwischen dem alten Mann und dem kleinen Mädchen aber kann sich durch zahlreiche Briefwechsel bis zu Juhos Tod erhalten. Leena muss schließlich erkennen, dass das Leben einem „Wollfaden“ ähnelt, der nicht immer glatt verläuft, sondern abwechselnd „dünn und buschig“ ist.
Im folgenden Buch wird der Bruder Tuomo willkommen geheißen und damit der Umzug in ein größeres Haus endgültig nötig. Außerdem plagen die Familie Sorgen um den Vater, der nach einem Schlaganfall lange Zeit im Krankenhaus verbringen muss. Aber „vom vielen Kummer wächst viel Liebe“ und mit viel Liebe findet auch der neue Bruder Pekka mit all seinen Eigenheiten und Merkwürdigkeiten einen Platz in der Familie. Auf seine rätselhaften Sprüche und Fragen weiß keiner so genau eine Antwort. Gerade deswegen wird er Leenas spezieller Liebling und schafft es als Einziger, der ernsthaften, kleinen Schwester Sonja ein Lächeln zu entlocken. Doch auch Pekka bereitet der Familie Kummer. Sein sich drastisch verschlechternder Gesundheitszustand zwingt sie, ihre Auswanderungspläne zu verwerfen und in ein kleineres Bauernhaus zu ziehen. Krankheiten, Geldsorgen, aber auch Liebeskummer und alte Geheimnisse beeinträchtigen in den folgenden beiden Bänden den Familienalltag.
Im letzten Buch legt sich ein Schatten über die sonst so lebensfrohe Großfamilie, der sich nicht mehr verscheuchen lässt. Die Mutter findet sich nach einem Autounfall im Leben nicht mehr zurecht. Als sie nach mehreren Aufenthalten in psychiatrischen Einrichtungen Selbstmord begeht, kann sich keiner mehr so recht vorstellen, jemals wieder lachen zu können. Trotz allem kann Leena ihr Schicksal akzeptieren, sie begreift, dass auch Traurigkeit zum Leben gehört.
Marjaleena Lembcke lässt die älteste Tochter Leena in einzelnen Episoden von den Lebensabschnitten ihrer Familie erzählen. Die Perspektive der Ich-Erzählerin wahrt die Autorin bis auf kleine Unregelmäßigkeiten konsequent. In den frühen Büchern gehen allerdings Sprache und Erinnerungsvermögen Leenas weit über das Niveau einer Vierjährigen hinaus. Facettenreiche Einblicke in das Gefühlsleben der Familie gestattet Lembcke durch Reflexionen Leenas, die mit steigendem Alter der Protagonistin zahlreicher werden. Die Erzählungen sind vergleichsweise handlungs arm, sie leben vor allem von der Vergegenwärtigung von Empfindungen und Erfahrungen. So entsteht mit leisen, unaufdringlichen Worten eine warme, ruhige und klare Atmosphäre, die den Leser in seinen Bann zieht. Da jedes einzelne Buch eine in sich geschlossene Geschichte bietet, muss die Reihe nicht unbedingt im Zusammenhang gelesen werden. Wer aber sein Bild von Leena und ihrer Familie allmählich vervollständigen möchte, dem sei eine chronologische Lektüre empfohlen.
Die in einer finnischen Kleinstadt geborene Marjaleena Lembcke zog 1966 nach Deutschland, wo sie noch heute mit ihrer Familie lebt. Erste Versuche, in ihrer Muttersprache zu veröffentlichen, misslangen. 1993 hatte sie mit dem in deutscher Sprache verfassten Titel „Mein finnischer Großvater“ einen ersten Erfolg. Bis heute ist keines ihrer Bücher ins Finnische übersetzt worden, obwohl „Als die Steine noch Vögel waren“ 1999 auf der Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis stand. Das gleichnamige Hörbuch wurde im selben Jahr mit dem Preis für das beste Hörbuch des Jahres ausgezeichnet. Ulrike Folkerts trifft genau den Ton der Geschichten und lässt den Hörer merken, dass auch sie sich von der Stimmung der Bücher mitreißen lässt.
Kindern ab acht Jahren bieten die (Hör-)Bücher die Gelegenheit, mit der Protagonistin älter zu werden. Überhaupt scheinen die Erzählungen traditionelle Vorstellungen über Lesealter aufzubrechen, denn auch die Geschichten über die kindliche Leena bieten sich als Lektüre für ältere Kinder und sogar für Erwachsene an. Marjaleena Lembcke selbst nennt den letzten Band ihrer Serie ein „Kinderbuch für Erwachsene“.