Limacher, Roland: Meines Vaters Haus
Erinnerungen eines Flussbuchhalters
von Solveig Thomas (2001)
„Früher diente es als Waisenhaus.“ Ein ums andere Mal muss der Vater so auf Drängen seiner Sprösslinge die Geschichten vom Haus Frohsinn einleiten. Erinnerungen eines erwachsenen Ich-Erzählers, in denen Fiktion und Wirklichkeit ineinander greifen, wo tatsächlich Erlebtes, Kindheitsfantasien und allmählich verschwimmende Erinnerungen nicht voneinander trennbar sind.
Als Erfinder zumeist unnötiger Erfindungen zu Geld gekommen, bezieht Vater Max mit Mutter Sophie, der kleinen Gilli und ihrem zwölfjährigen Bruder, dem Ich-Erzähler, ein ehemaliges Waisenhaus auf dem Land, um daselbst dem „süßen Nichtstun zu frönen“. Nach und nach füllt sich das riesige Haus, das verzaubert seinen Bewohnern alte Waisenhausgeschichten zuzuraunen scheint, mit den schillerndsten Gestalten.
Liebevoll skizziert Limacher seine Figuren – der Leser kann sich ihnen emotional nähern und im nächsten Moment über das Absurde der Charaktere den Kopf schütteln. An die Seite von Mutter Sophie und der siebenjährigen Gilli, die mit ihrem analytischen Blick und der Prägnanz, mit der sie die Dinge auf den Punkt bringt, ihrem Alter weit voraus zu sein scheint, tritt die sarkastische Großmutter Margot. Die Reihe der bestechend starken weiblichen Figuren wird komplettiert durch die „mit einem respektablen Selbstvertrauen und einem ebensolchen Körper“ ausgestattete Forscherin Hanna. Den Frauen gegenüber stehen liebenswert hilflose und befremdende Männerfiguren. Eindrücklich repräsentiert werden sie durch Onkel Alfred, der vom vermeintlichen Torero zum Kunstfurzer mutiert.
Fantastische Züge erhält die Erzählung durch Bergengruens Gedicht „Meines Vaters Haus“. Dessen Verse werden wiederholt als Beschwörungsformel eingesetzt und so unverhofft zur Realität. Besonderen Wert legt Limacher auf die metaphorische Ausgestaltung der Räume. So übt neben dem Geborgenheit bietenden Waisenhaus insbesondere der nahe gelegene Fluss eine große Anziehungskraft auf den Ich-Erzähler aus: Intensiv mit der eigenen Person beschäftigt, ernennt er sich zum „Flussbuchhalter“, der alles, was auf dem Fluss vorbeitreibt, sorgfältig notiert. In der Auseinandersetzung mit ,seinem’ Fluss kommt er mit dem wundersamsten Treibgut in Berührung: Kapitän Ahab und Moby Dick, Charles Dickens und insbesondere Fanny Hill, durch seine Vorstellungskraft lebendig geworden, treiben durch seine „Mitte“ – er durchlebt abenteuerliche und erotische Fantasien.
Mit viel Feingefühl und subtilem Humor, der dem John Irvings nahe kommt, schildert Limacher die skurrile Geschichte des Hauses Frohsinn, einer Kindheit und Jugend und deren unwiderruflichem Ende. „Meines Vaters Haus“ kann als märchenhafte Erzählung oder als fantastische Erinnerung gelesen werden und ist sowohl jugendlichen als auch erwachsenen Lesern sehr zu empfehlen.