Ani, Friedrich: Durch die Nacht, unbeirrt
Jugend im Schatten
von Otto Brunken (2001)
Neuaubing, eine unwirtliche Hochhaussiedung am Münchner Stadtrand. In dieser „Totenstadt“ lebt der 16-jährige Mingo Border, ein melancholisch-introvertierter Außenseiter, in einer Familie, die sich nichts mehr zu sagen hat. Er weiß nicht, dass sein alkoholabhängiger Vater schon seit langem arbeitslos ist. Seine zermürbte Mutter versucht mühsam, das empfundene Elend hinter einer Fassade aus Schweigen und Scham zu verbergen. Ihre Liebe für Mingo kann sie in ihrer Verschlossenheit nicht äußern. Erst bei seiner Mitschülerin Isa findet Mingo Geborgenheit und Zuneigung. Doch eines Tages ist Isa verschwunden. Auf eigene Faust beginnt Mingo eine aufreibende Suche nach ihr und als er Isa schließlich aus einer Hochhauswohnung befreien kann, ist es fast schon zu spät.
Raffiniert verschränkt Friedrich Ani im ersten Teil von „Durch die Nacht, unbeirrt“ zwei Handlungsstränge miteinander: Die immer atemlosere Suche Mingos montiert er gegen mitunter quälend langsame Szenen, die Isas Missbrauch durch die Eltern enthüllen: Ihr abgöttisch geliebter „Daddy“ nutzt das Vertrauen der Tochter aus und zwingt sie zu pornografischen Aufnahmen. Die Angst, die Isa dabei spielen soll, wird zur immer qualvolleren Realität, die das Mädchen in die Hoffnungslosigkeit treibt. Tagelang in einer fremden Wohnung eingesperrt, von der Mutter verraten, vom Vater windelweich geschlagen, gelingt ihr erst mit Mingo die Flucht. Es ist eine kurze Freiheit für sie: In einem wilden Rausch tanzt sich die herzkranke Isa zu Tode. Mingo, der ihr die Drogen besorgen musste, fühlt sich schuldig an ihrem Schicksal und unternimmt einen Selbstmordversuch.
Diese Szene – Mingo wird durch den Polizeireporter Kettelbach gerettet – bildet den Ausgangspunkt sowohl des ersten, retrospektiv erzählten, als auch des zweiten, fortlaufend erzählten Romanteils. Dieser handelt davon, wie Mingo dem Journalisten dazu verhilft, einen Weg zu sich selbst und seinen Adoptiveltern zu finden, vor allem aber, wie Mingo, aufgerüttelt durch ein fiktives Zwiegespräch mit der toten Isa, von einem „Schatten ohne Jugend“ zu einem Jugendlichen reift, der um Angst, Einsamkeit, Tod und Liebe weiß – und vor allem um seinen eigenen Wert. So kann er in das Leben hinaustreten und für seine Eltern ein neues Verständnis entwickeln.
Auch wenn die kolportagehaften Züge nicht zu übersehen sind und man die dramaturgische Notwendigkeit der leicht ausufernden Kettelbach-Handlung bezweifeln mag, so ist doch unstrittig, dass Ani ein psychologischer Jugendroman gelungen ist, der hinsichtlich der souveränen Handhabung von Erzähltechniken Standards setzt. Temporeich und einfühlsam erzählt, überzeugt der Text durch eine ausgeklügelte Zeitgestaltung, intensiven Einsatz filmsprachlicher Mittel und gekonnte Multiperspektivik, aber auch durch Verrätselungen, Vorausdeutungen sowie zahlreiche intertextuelle und -mediale Bezüge, die gleichsam als Bewusstseinsreflektoren fungieren. Für Ungeübte ist der packende Roman sicherlich nicht ganz einfach zu lesen, aber er entschädigt durch sein Angebot, neuere Formen des Erzählens kennen zu lernen.