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Titelbild
Krauß, Irma:
Rabentochter
Aarau u. a.: aare 2000
194 S., € 10,80

Auch als TB:
Würzburg: Arena 2003
200 S., € 6,90

Krauß, Irma: Rabentochter

„Ich will ... meine Mama“

von Traudl Bünger (2001)

Corinnas leibliche Mutter ist immer ein Tabuthema gewesen. Die Adoptiveltern weichen den drängenden Fragen des Mädchens aus, das Jugendamt wird Corinna erst informieren, wenn sie 18 ist. Dennoch ist die namenlose blonde Frau, mit der sie die ersten drei Jahre ihres Lebens verbracht hat, immer in Corinnas Gedanken. Fanatisch speichert sie jedes Fetzchen Erinnerung und registriert mit Genugtuung, wie sie ihrer Mutter täglich ähnlicher zu werden scheint. Die Sehnsucht ist so groß, dass für die Adoptiveltern kein Platz bleibt. Dabei geben sich Edith und Bernd alle erdenkliche Mühe: Sie werten Corinnas Kleptomanie als Sehnsucht nach Liebe, stehen zu ihr, als sie wegen Diebstahls das Gymnasium verlassen muss, holen sich Rat bei einem Psychologen. Alles vergebens. Corinna kann sich nicht in diese perfekte Familie einfügen, in der die Mutter im Garten Kartoffeln zieht und vor jedem Zimmer ein Salzteigschild mit dem Namen des Bewohners hängt. Ihre Verlassenheit vergisst sie nur, wenn sie sich mit Süßigkeiten vollstopft. Immer wieder irrt sie durch nächtliche Straßen, auf der Suche nach ihrer Mutter.

Als die 14-Jährige auf der Party ihres Bruders vergewaltigt und dabei schwanger wird, erlebt sie durch die starke Bindung zu dem ungeborenen Kind das erste Mal ein Gefühl der Geborgenheit. Auf keinen Fall will sie es abtreiben oder zur Adoption freigeben. Wieder einmal fühlt sie sich von der Fürsorge Ediths bedroht und flieht in ein Mutter-Kind-Heim. Nach einem langen Tauziehen kommt es hier endlich zu der ersehnten Begegnung mit „Mama“: für Corinna eine Enttäuschung. Gewaltsam muss sie sich von dem jahrelang gepflegten Bild verabschieden. Erst jetzt gibt es vielleicht für Corinna und ihre Adoptiveltern eine Chance ...

Dass Adoption von den betroffenen Kindern nicht immer als Glücksfall akzeptiert werden kann, macht Irma Krauß in diesem problemorientierten Jugendroman deutlich. Mit einer Montage aus inneren Monologen, Rückblenden und filmisch-beobachtenden Sequenzen wird sie allen beteiligten Figuren gerecht. Innere Monologe bringen Corinnas Gefühlslage glasklar vor die Augen der Lesenden – immer sind ihre Handlungen als Verzweiflungstaten erkennbar. Aber auch der Hilflosigkeit und angestrengten Geduld der Adoptiveltern wird Raum gegeben. Deren Gefühle werden in Gesprächen transparent, die die Autorin filmisch-beobachtend präsentiert. Durch diese Kombination verschiedener Perspektiven können die Lesenden verfolgen, wie sich auch die beste Absicht fatal auswirken kann. Etwa, wenn Edith aus Hygienegründen Corinnas Kissen entsorgt. Es war die letzte gegenständliche Erinnerung an die Mutter und taucht noch nach Jahren in den Zeichnungen des Mädchens auf. Zwar schöpft Krauß die Möglichkeiten moderner Erzählformen mitunter nicht aus, gestattet aber einen analytischen Blick auf die Ereignisse, der den Figuren nicht gelingen kann und anspruchsvolle Lesarten ermöglicht.

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