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Craig Silvey:
Wer hat Angst vor Jasper Jones?
Aus dem Englischen von Bettina Münch
Reinbek: Rowohlt 2012
416 Seiten
€ 16,95
Kindle Edition: € 14,99
Jugendbuch ab 14 Jahren

Silvey, Craig: Wer hat Angst vor Jasper Jones? 

Schuld und Unschuld

von Jonas Hofmann und Nana Wallraff (2013)


„Jasper Jones ist an mein Fenster gekommen. Ich weiß nicht, warum, aber es ist so. Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten. Vielleicht kann er sonst nirgendwohin. Auf jeden Fall hat er mir eine Scheißangst eingejagt.“

Genau wie der dreizehnjährige Australier Charlie Bucktin urplötzlich in ein Abenteuer gezogen wird, ist man auch als Leser gleich mittendrin in der Handlung: Um den Jahreswechsel 1965/66 bittet Jasper, der als Halb-Aborigine, Halb-Waise und Sohn eines trinkenden Vaters als Personifikation der ‚schiefen Bahn' gilt, Charlie mitten in einer heißen Sommernacht um Hilfe. Der ein Jahr jüngere Charlie ist ziemlich genau das Gegenteil Jaspers: belesen, aber ängstlich, eher schmächtig gebaut und eine Niete im Sport, was ihm regelmäßig Demütigungen von Stärkeren einbringt. So bleibt ihm nur sein einziger Freund, der Vietnamese Jeffrey Lu, mit dem er sich oft – mal mehr, mal weniger – geistreiche Wortgefechte liefert.

Jasper führt Charlie in den Busch, wo er ihm auf einer kleinen Lichtung – seinem geheimen Rückzugsort – einen grausigen Fund zeigt: Laura Wishart, die Tochter des Bezirkspräsidenten, hängt tot und misshandelt an einem Baum, mit nichts weiter als ihrem Nachthemd bekleidet. Jasper hat Angst: „Die verknacken mich und sperren mich ein, ohne lange zu fackeln, Kumpel.“ Ihm ist sofort klar, dass bei einer Entdeckung er der Schuldige sein wird, egal was er als Alibi vorbringen könnte. Die beiden Jungen beschließen, Lauras Leiche in einem Tümpel verschwinden zu lassen und dann aufzuklären, wer hinter dem Verbrechen steckt. Einen Verdächtigen hat Jasper immerhin: Mad Jack Lionel, ein Sonderling, den niemand je wirklich zu Gesicht bekommt und von dem man sich erzählt, dass er vor einigen Jahren eine Frau umgebracht habe.

Charlie findet sich alleine und durch das Wissen um Laura geschockt im Alltag wieder. Die Suche nach dem Mörder tritt vorerst ziemlich in den Hintergrund, es gibt noch anderes zu tun. So wird ganz Corrigan Zeuge, als Jeffrey durch Zufall an einem Cricketspiel teilnehmen darf und die Ehre der Stadt rettet. Außerdem versucht Charlie immer wieder, sich gegen seine autoritäre und verbitterte Mutter zur Wehr zu setzen und seinen passiven Vater aus der Reserve zu locken – mit nur mäßigem Erfolg. Und dann ist da noch Eliza, die jüngere Schwester der toten Laura. Zwischen ihr und Charlie keimt die erste große Liebe auf. Währenddessen versucht Charlie, mit dem schrecklichen Wissen, das er unfreiwillig erlangt hat, fertigzuwerden, da er es ja mit niemanden teilen kann. Als Jasper schließlich zur Überzeugung gelangt ist, Jack Lionel überführt zu haben, stellen die beiden Teenager ihn zur Rede – allerdings mit einem Ergebnis, das keiner erwartet hätte. Und auch Eliza, die bereits früher angedeutet hat etwas zu wissen, überrascht mit einer ebenso erhellenden wie traurigen Enthüllung.

Der aus der Ich-Perspektive erzählende Charlie erlebt in diesem Sommer, dass vieles nicht so ist, wie es scheint, und dass die Welt der Erwachsenen voller Lügen ist. Er trägt nicht nur die Bürde des Wissens um die tote Laura, sondern muss mit ansehen, wie sich seine Heimatstadt verändert. Rassismus und Angst vor dem Unbekannten verbreiten sich, und er versucht zu ergründen, was einen Menschen dazu bringt, schreckliche Taten an anderen zu verüben. Hier zeigt sich auch, dass es sich bei dem Buch „Wer hat Angst von Jasper Jones?“ vor allem um einen Entwicklungsroman handelt. Der unscheinbare Charlie, der einmal Schriftsteller werden möchte, verliert innerhalb eines Sommers seine kindliche Unschuld und betritt die Welt der Erwachsenen. Doch was ihm in dieser Welt widerfährt, verändert sein ganzes Leben: „Alles, was in meiner Welt fest und sicher war, wurde durcheinandergewirbelt und schwebt jetzt in einem Scherbenregen wieder zu Boden.“

In seinen Gesprächen mit Jasper Jones philosophiert er über den Sinn des Lebens, den Glauben und die Bedeutung der Menschheit: „Vermutlich ist Beten nix anderes, als darauf zu vertrauen und daran zu glauben und mich selbst anzuspornen, stark zu sein.“ Jasper spiegelt den langsam erwachsen werdenden Teil Charlies wider. Er ist selbstständig, frei und auf eine verwegene Art und Weise mutig. In Jeffrey hingegen findet sich der kindlichere Gegenpart. Die Diskussionen der zwei Freunde bestechen durch ihre Leichtigkeit und – zuweilen etwas derbe – Komik.

Charlys Freund Jeffrey hat es zur Zeit des Vietnamkrieges als Einwanderersohn allerdings auch nicht leicht. Es stellt sich hier die Frage, ob nicht er der wirklich Mutige ist. Denn alle Demütigungen, denen seine Familie ausgesetzt ist, steckt er oft mit Humor, immer aber erhobenen Hauptes weg. Er inspiriert Charlie auch bei der Suche danach, was wahrer Mut bedeutet. Diese Frage zieht sich als roter Faden durch den gesamten Roman. So stellen die beiden Überlegungen darüber an, ob Superman oder Batman der mutigere Superheld sei.

Dieses Buch ist zugleich ein Kriminalroman, ein Plädoyer gegen Hass und Gewalt, ein urkomisches Buch und ebenso eine zarte Liebesgeschichte. Diese Vielfalt macht es zu einem Roman, der nicht nur von Jugendlichen gelesen werden kann, sondern auch dem erwachsenen Leser einiges bietet. Er wurde bereits in über fünfzehn Ländern veröffentlicht, vielfach positiv besprochen und mit einigen Preisen ausgezeichnet.

Silvey versteht es, seine Charaktere lebendig und glaubwürdig darzustellen – da macht es nichts, wenn sie manchmal etwas klischeehaft wirken. Auch wenn es etwas irritierend ist, dass der erst dreizehnjährige Charlie sein Umfeld derart abgeklärt analysiert und beobachtet, kann man sich doch gerade in ihn mühelos hineinversetzen.

Silvey gelingt es auch, einen Roman, der im Stil der Südstaatenliteratur geschrieben ist, in Australien spielen zu lassen. Die Nähe zu anderen Werken ist offensichtlich: Charlies Lieblingsautoren sind Harper Lee, Truman Capote oder Mark Twain. Besonders „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee weist viele Parallelen zu „Wer hat Angst vor Jasper Jones?“ auf. Charlies Vater erinnert stark an Atticus Finch, Mad Jack Lionel dagegen an Boo Radley. Aber auch zu anderen Werken finden sich Verweise, Jasper Jones zum Beispiel wirkt wie ein modernerer Huckleberry Finn. Und so findet Charlie ausgerechnet in Twains „Knallkopf Wilson“ die Antwort auf die Frage nach dem wahren Mut: „Mut haben bedeutet der Furcht widerstehen, sie beherrschen – nicht, keine Furcht haben.“

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