Shelton, Dave: Bär im Boot
Ein Junge. Ein Bär. Ein Boot.
von Philip Luft (2013)
In seiner Erzählung „Bär im Boot“ nimmt Dave Shelton seine Leser mit auf eine Reise. Es ist die Reise eines kleinen Jungen und eines großen Bären in einem sehr kleinen Boot. Sie streiten sich, raufen sich zusammen und bestehen gemeinsam Abenteuer. Dabei ist gar nicht klar, wo ihre Reise genau hinführt. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig ...
Die Fahrt beginnt ganz harmlos. Der Kapitän heißt seinen einzigen Fahrgast, den Jungen, auf dem Ruderboot namens „Harriet“ willkommen, fragt nach dem gewünschten Reiseziel und schon heißt es: Leinen los! Die Tatsache, dass es sich beim Kapitän um einen ausgewachsenen Bären handelt, scheint bei dem Passagier weder Sorge noch Misstrauen zu wecken. Und wieso auch? Wer ein Boot nebst Seekarten, eine Kapitänsmütze und eine Kiste voller Proviant hat, wird sein Handwerk schon verstehen. Dass die Kiste so groß ist – „nur für alle Fälle“ – beunruhigt den Jungen also nicht in größerem Maße.
Die Überfahrt dauert länger, als der Junge ursprünglich vermutet hatte. Eigentlich wollte er doch nur „rüber auf die andere Seite“. Und auf dieser Nussschale von einem Boot gibt es leider ebenso wenig Spielzeug wie Platz zum Toben. Das Einzige, was im Überfluss vorhanden zu sein scheint, ist Zeit – und das bedeutet Langeweile! Daran vermag auch ein ausgedehntes Spiel ‚Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst’ nichts zu ändern. Auch der Versuch, sich mit einem Comic längere Zeit über Wasser zu halten, schlägt fehl. Die Zeichnungen gefallen dem Jungen überhaupt nicht, und außerdem ist der Comic, von dem nur noch der Mittelteil erhalten ist, in einer für ihn nicht verständlichen Sprache verfasst.
Doch auch wenn es dem Jungen an Möglichkeiten zum Zeitvertreib fehlt, so bietet ihm der Bär mit seinen Schrullen wenigstens immer wieder Anlass zur Verwunderung. Für den Kapitän selbst scheint es jedoch nur selbstverständlich, dass Punkt vier Uhr die Ruder beiseitegelegt werden. Denn jetzt ist Teezeit. Und die Zeit, die der Tee zum Ziehen benötigt, wird zeremoniell mit einem Lied auf der Ukulele überbrückt.
Je länger die beiden unterwegs sind, desto größer werden die Zweifel des Jungen an den seefahrerischen Fähigkeiten seines Begleiters. Daran vermögen auch die besonderen ‚Seekarten‘ des Kapitäns nichts zu ändern, vielmehr rufen sie im Jungen Widerwillen und sogar Aggressionen hervor. Wie soll man etwas auf einer Karte erkennen, die ausschließlich aus blauer See besteht? Zudem vermittelt der Bär nicht gerade den Eindruck, er sei eine Koryphäe im Kartenlesen. Nachdem er seine Anspannung in einer Schimpftirade auf den Bären entladen hat, findet der Junge sich mutterseelenallein auf dem Ruderboot wieder, voller Reue ob seines groben Verhaltens und voller Angst, seinen Kapitän verloren zu haben. Umso größer ist die Erleichterung, als dieser wieder auftaucht. Auch wenn er es sich nicht anmerken lassen will: Der Junge ist froh, seinen pelzigen Reiseleiter wieder zu haben. Um die wiedergewonnene Zuversicht aufrechtzuerhalten und den Hunger zu stillen, entscheiden sich die beiden zu angeln. Wider Erwarten entpuppt sich dieses Unterfangen als lebensgefährlich, und nur knapp entgehen sie einer Katastrophe.
Das hindert das Duo nicht daran, gleich darauf wieder nach Herzenslust zu streiten. Der Junge kritisiert den Leichtsinn des Bären, welcher – gelassen, wie er ist – nur den glücklichen Ausgang der bisherigen Reise preist. Es hätte schließlich viel schlimmer kommen können, denn „gegen beinahe draufgehen ist überhaupt nichts zu sagen. Tatsächlich draufgehen, das wäre wirklich ärgerlich.“ Als der Disput gerade auf seinem Höhepunkt anlangt, taucht ein unerwarteter Schlichter auf: eine Feder – und kurz darauf sogar der dazugehörige Vogel. Das Festland kann also nicht weit sein!
Anstatt sie aber an die Küste zu führen, leitet der Vogel sie zu einem stattlichen Dreimaster. Wieder sind Bär und Junge gezwungen, sich auf eine vollkommen neue und unvorhersehbare Situation einzustellen. Und als sie mit der „Harriet“ ablegen und ihre Reise fortsetzen wollen, gibt es eine böse Überraschung. Jedenfalls finden sich die beiden kurz darauf erneut auf dem Meer wieder – leider ohne Boot, ohne Dreimaster, aber mit Kurs auf den einzigen Punkt auf der Seekarte, der kein Kekskrümel ist ...
Dave Shelton zeichnet sowohl für die Geschichte als auch für die Illustrationen in „Bär im Boot“ verantwortlich. Schon der blassblaue, an den Kanten berieben wirkende Umschlag des Buches mit seinem quadratischen Liniennetz macht durch seine schlichte und kunstfertige Gestaltung neugierig, ist er doch untypisch für ein Kinderbuch. Zu sehen ist eine der ‚Seekarten‘, versehen mit dem täuschend echt anmutenden Abdruck einer darauf abgestellten schmutzigen Teetasse. Erst bei näherer Betrachtung fällt der winzige Schemen des Ruderbootes auf. Die Binnenzeichnungen sind hauptsächlich in Schwarzweiß gehalten. Die Charakterzüge der Protagonisten werden durch eine sehr feine, aber ausdrucksstarke Darstellung von Mimik und Gestik der Protagonisten unterstrichen. Wenn beispielsweise der Bär wie eine zierliche ältere Dame seinen Tee schlürft oder die Ungeduld des Jungen beim Spiel von Bild zu Bild deutlicher sichtbar wird, meint man, die beiden immer näher kennenzulernen. Besonders stimmungsvoll sind die sechs kolorierten Doppelseiten im Buch. Shelton zeigt auf diesen sein ganzes Können. Jede einzelne der Doppelseiten ist sowohl in Kolorierung als auch Dynamik außergewöhnlich und beeindruckend. Zu bewundern gibt es beispielsweise das Innere einer Geisterschiffkombüse, das Spiel des urgewaltigen Meeres mit der „Harriet“ oder auch das gemeinsame Lesen der Seekarte vom Cover; eine gerasterte Doppelseite bietet zudem einen Ausschnitt aus dem unverständlichen Comic.
In seiner ruhigen, wenn auch keineswegs spannungsarmen Erzählung bedient sich Shelton geschickt einzelner Versatzstücke des aus Seefahrergeschichten und Abenteuerromanen bekannten Repertoires. Auf der Oberfläche kann man „Bär im Boot“ daher als Abenteuer zweier völlig unterschiedlicher Charaktere lesen, die einen gemeinsamen Weg finden und sich zusammenraufen müssen, um kleinere und größere Herausforderungen bestehen zu können. Zugleich scheint die Beziehung zwischen dem Bären und dem Jungen der vieler Eltern und ihrer Kinder vergleichbar. Damit schafft Shelton Identifikationsfiguren. Der Kapitän als ‚Elternfigur‘ versucht den Eindruck zu vermitteln, er habe einen funktionierenden Plan und verfüge über den Überblick; von Zeit zu Zeit muss er den Passagier davon überzeugen, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. Aber bei aller vorgestellten Kompetenz und Selbstsicherheit muss auch die Vorbildfigur erkennen, wann es an der Zeit ist, Ruder und Kapitänsmütze zu übergeben und den Passagier seinen eigenen Kurs einschlagen zu lassen. Eltern wie Kinder werden beim Lesen immer wieder Berührungspunkte mit dem eigenen (Zusammen-)Leben finden, sei es die Abhängigkeit beider Akteure voneinander, die Notwendigkeit, sich aufeinander verlassen zu können, aber auch die Unabdingbarkeit der Gewährung von Freiräumen und des Loslassens voneinander. Nicht zuletzt deshalb kann das Buch auf verschiedenen Altersstufen mit immer wieder neuer Erkenntnis gewinnbringend gelesen werden.
Ob sich dabei auch bereits die symbolische Ebene, die „Bär im Boot“ eingezogen ist, erschließt, scheint dagegen eher fraglich. Shelton arbeitet in seiner Erzählung mit der uralten Symbolik der Boots- oder Schiffsreise als Lebensreise. Bei der Betrachtung der Reise auf der „Harriet“ wird klar, dass nicht das ‚Wohin?‘ die entscheidende Rolle spielt, sondern vielmehr das ‚Wie?‘. Wie die Harriett, so wird auch das ‚Lebenschiff‘ auf schaukelnden Wellen getragen, spült uns mal hier hin, mal dort hin und bringt uns in stets neue Situationen, deren Herausforderungen wir bestehen müssen. Dass dies mitunter einfacher ist, wenn man das Ziel gelegentlich außen vor lässt und sich auf den Moment konzentriert, ist die hintergründige Botschaft von „Bär im Boot“. Und wenn man diesen Moment mit jemandem zusammen erleben kann, dann ist er häufig umso schöner, und zudem macht ein gemeinsames Vorgehen das weiträumige Umschiffen oder im Notfall auch das Durchkreuzen „unvorhergesehener Anomalien“ – sie macht der Bär für die Fährnisse verantwortlich – deutlich einfacher.
„Bär im Boot“ ist sowohl optisch als auch inhaltlich ein Hochgenuss, eine witzige, rührende und spannende Abenteuergeschichte, die zum Nachdenken anregt. Gerade beim Vorlesen wird wohl Eltern wie Kindern die eine oder andere Situation allzu bekannt vorkommen, und die Geschichte liefert reichlich Gesprächsanlass. „Bär im Boot“ sei allen Lesern ab acht Jahren hiermit wärmstens empfohlen.