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Titelbild
Marita de Sterck:
Zuletzt die Hunde
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Hamburg: Oetinger 2012
257 Seiten
€ 12,00
Jugendbuch ab 14 Jahren

de Sterck, Marita: Zuletzt die Hunde

War kills, that's all it does!

von Khalid Arif-Hayat und Nana Wallraff (2013)


Der siebzehnjährige Protagonist Victor Vervoort leidet an Epilepsie und hat täglich mindestens einen Anfall. Seine Krankheit ist der Grund, weshalb er nicht wie sein älterer Bruder Nest an der Front des Ersten Weltkriegs kämpft – eine Schande, wie Victor findet. Obwohl sich die Schlachtfelder weit im Westen Belgiens befinden, sind die Schrecken des Krieges im ganzen Land spürbar. Am 1243. Kriegstag ist die nationalen Kriegseuphorie längst der Realität gewichen: Fast jede Familie hat Opfer zu beklagen. Neben der Angst und Trauer ist es vor allem der Hunger, welcher die Menschen fest im Griff hat. In ihrer Verzweiflung essen die Menschen Hunde, Schwäne und Katzen – alles, was ihr Überleben sichert.

Victor jedoch lebt fernab der schrecklichen Realität. Als Sohn eines Notars wächst er wohlbehütet auf, geschützt vor jeglichen Gefühlsextremen, die angeblich die Anzahl seiner Anfälle steigern. Die Eltern isolieren ihn so auch vor jeder Möglichkeit der Selbsterfahrung und -verwirklichung. Er flüchtet sich in die fantastische Welt Jules Vernes, die ihm genauso verboten ist, wie sich alleine zu rasieren oder gar zu baden. Sein einziger Halt ist der belgische Schäferhund Django, welcher ihm mehr als nur ein guter Freund ist: Bevor Victor selbst es bewusst ist, spürt der Hund die Anfälle kommen und wirft sich schützend unter Victor.

Als Django eines Tages verschwindet, verlässt der junge Mann das Haus: „Ab heute will Victor leben wie ein Mann. Wenn er sich dabei einige Schrammen und Beulen zuzieht, so ist ihm das die Sache wert.“ Gewappnet mit einem Taschenmesser, etwas Geld und Briefen seines Bruders von der Front, macht er sich auf die Suche nach Django. Victor landet auf dem Armenmarkt und hört ein paar Menschen über eine Hundeschlachterei sprechen. Fassungslos über das Gehörte, macht er sich nun auf seine eigentliche Reise dorthin, zur 30 km entfernten Stadt Boom.

Es begegnen ihm auf seiner Suche die skurrilsten Figuren: vom Krieg gezeichnete Schicksale und Existenzen wie z.B. ein völlig verwahrloster Frauentrupp, der auf der wilden Jagd nach einem Schwan von dem Tier in kürzester Zeit nichts mehr übrig lässt.
Der Hunger bewirkt bei den Menschen jedoch noch viel Grausameres: Victor lernt eine Bauernfamilie kennen, so genannte ‚Milchpanscher‘, die ihre Milch mit Kalk versetzen und dadurch den Tod von Kleinkindern verursachen. Er sieht, was die arme Bevölkerung erleidet und was sie vom Krieg hält.

Immer wieder wird Victor von seiner Krankheit eingeholt und ist auf Hilfe angewiesen. Dabei grenzt es teilweise an ein Wunder, dass er den unzähligen Gefahren nicht zum Opfer fällt. So begegnet er z. B. dem ‚bärtigem Lumpenweib', welches selbst alles verloren hat und ihm dennoch selbstlos beisteht. Der wegen seiner Anti-Kriegslieder gesuchte Sänger Flor hilft ihm, sich vor den deutschen Offizieren zu verstecken. Inmitten dieser verrohten und grausamen Realität trifft Victor immer wieder auf Freundschaft und Wärme. Seine Fallsucht inmitten des Krieges fügt dem Roman dabei eine deutliche Symbolik hinzu. Ähnlich verhält es sich mit dem Schlachten: der Hundemetzger, die den Schwan massakrierenden Frauen – wiederholt werden solche blutigen Details benannt, deren Symbolgehalt nicht deutlicher sein könnte.

Unterdessen findet der junge Mann Zeit, die Briefe seines Bruders Nest zu lesen. Diese wurden ihm wegen seiner Krankheit vorenthalten. In den Briefen schildert Nest die unglaubliche Grausamkeit, seine Hoffnungslosigkeit und Angst vor dem nicht enden wollenden Krieg. Es stellt sich heraus, dass die Entscheidung seines Bruders Nest, an die Front zu gehen, anscheinend doch nicht so freiwillig war, wie Victor gedacht hat. Der Vater der Brüder ist noch immer noch von der Richtigkeit des Krieges überzeugt. Im Verlauf der Handlung entwickelt der Leser mehr und mehr Skepsis dem auktorialem Erzähler gegenüber, was die Wahrheit über Nest angeht. – Als Victor Boom erreicht, befindet sich die Geschichte auf dem Höhepunkt der Spannung, dort wo die Erzählung zeitlich im 1. Kapitel beginnt.

Der Reifungsprozess Victors spiegelt sich nicht zuletzt auch in sexueller Hinsicht wider: „Er wollte wissen, ob er ein Mann wie alle anderen war, ob sein Körper etwas mit einer Frau haben konnte, ohne kaputtzugehen. Und falls er doch in Stücke brach, dann war es eben so.“ Seine Unschuld verliert er letztendlich an Geigen-Trezeke, eine Prostituierte, welche ihn nicht mit „einem leeren Magen zur Hölle“ fahren lassen möchte.

Die zu erwartende Konfrontation mit dem Vater bietet das Finale, Victors Reifeprüfung. Es gelingt ihm, seinem Vater die Illusion zu nehmen, Nest sei ehrenhaft gefallen, und ihm klarzumachen, dass dieser Krieg rein gar nichts Ehrenhaftes hat. Der Bruder hat dies erkannt und das Sterben dem Töten vorgezogen. Schließlich gelangen die Antikriegslieder von Flor, dem Sänger, am Ende auch im Hause der Vervoorts an, und Victors Mutter spricht die einzig wichtige Wahrheit aus: „Dieser Krieg muss aufhören.“

Jedem Kapitel steht eine kurze Vorausschau auf die nächstfolgenden Ereignisse voran. Dies ermöglicht es dem Leser, Victors Reise zeitlich und geographisch leichter einzuordnen und steigert gleichzeitig auch die Spannung, ohne die Handlung im Einzelnen vorwegzunehmen. So lässt schon das erste Kapitel den Leser wissen, wohin die viertägige Reise des Protagonisten führen wird. Zeitsprünge und Erinnerungen ziehen sich dabei durch die komplette Erzählung und können mitunter etwas verwirrend sein.

Aufgrund vieler historischer Fakten (z. B. die „teutonische Barbarei“) und der Problematik um den flämisch-wallonischen Konflikt kann dieses Buch ohne jedes Vorwissen teilweise schwierig zu verstehen sein und ist somit eben nicht Lektüre für jedermann. Doch liegt die Stärke des Romans in seiner geschichtsträchtigen und authentischen Erzählweise. Oft hat man das Gefühl, die Autorin hätte die Grauen des Krieges – und was dieser aus den Menschen macht – selbst miterlebt. So gewährt sie dem Leser einen eindrücklichen Einblick in die Städte und Dörfer hinter der Front.

Die mangelnde Möglichkeit zur Identifikation für einen jungen, deutschen Leser mag eine Schwäche sein: Es geht um eine Handlung, welche sich vor einem Jahrhundert im eher unvertrauten Belgien abspielt, darüber hinaus noch in den unvorstellbaren Grauen des Ersten Weltkrieges. Hinzu kommen die fremdartigen Namen der Orte und Menschen, die den Lesefluss stören können. Auch wenn der Erzählstil der Autorin die Kriegswirren, so detailliert diese auch geschildert werden, in den Hintergrund rücken lässt und das Abenteuer Victors stärker beleuchtet, so bleibt es doch ein fremder historischer Kontext.
Das Buch mag die Leserschaft polarisieren – durch seine sehr melancholische Atmosphäre, durch teilweise sehr grausame Details und aufgrund der Notwendigkeit der für eine fruchtbare Lektüre vorauszusetzenden geschichtlichen Kenntnisse.

Nichtsdestotrotz: Marita de Sterck ist mit „Zuletzt die Hunde“ eine Erzählung gelungen, die von der Vielfalt ihrer Figuren, dem genau ausgestaltetem Zeitkolorit sowie einem außergewöhnlichen Protagonisten lebt. Die unmissverständliche Botschaft des Buches ist problemlos auf unsere Zeit zu beziehen. So erklärt sich auch die Entscheidung der Autorin, das Werk mit einem Zitat eines Moralphilosophen beginnen zu lassen, welcher sich hauptsächlich mit den moralischen Realitäten des Krieges auseinandersetzt. Der Krieg tötet nicht nur die Menschen, sondern auch deren Hoffnung, Moral und Vernunft: „War kills, that`s all it does!“

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