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Titelbild
Hermann Schulz:
Warum wir Günter umbringen wollten
Mit Bildern von Maria Luisa Witte
Hamburg: Aladin 2013
156 Seiten
€ 14,90
Illustriertes Kinderbuch/ Illustriertes Übergangsbuch ab 12 Jahren

Schulz, Hermann (Text) und Maria Luise Witte (Illustration): Warum wir Günter umbringen wollten

Die Erwachsenen machen’s doch auch so!

von Lena Kuhnen (2013)


„Ich war ratlos, was Günter angeht. Ich wollte es so gern einfach vergessen. Aber das konnte ich nicht. Irgendwas mussten wir machen. Keine Ahnung, was?“

Frühling 1947 im Wendland. Der Krieg ist vorbei, zahlreiche Flüchtlinge sind als Zwangszugewiesene auf den Höfen der einheimischen Bauern untergekommen, die Kinder gehen seit einer Weile wieder zur Schule. Freddy, der Probleme mit seinen Eltern gehabt hat, lebt bei seinen Verwandten auf einem Bauernhof in der Nähe von Lüneburg. Auf der Suche nach Abenteuern verbringt er seine freie Zeit oft zusammen mit seinen Freunden im Wald. Die beiden Bauernsöhne Dietrich und Manni sind mit dabei, die aus Westpreußen stammenden Flüchtlingskinder Erwin und Walter und der bereits zwölfjährige Leonhard, aus Schlesien gebürtig. Aber dann gibt es da noch den aus Ostpreußen kommenden Günter, der mit seiner Mutter im Nachbardorf lebt. Günter, der ständig mit einer Rotznase herumläuft und auch noch stottert, ist bei den anderen Kindern wenig beliebt: „Er stand immer blöd herum und man konnte nichts mit ihm anfangen.“

Wenn Freddy und seine Freunde im Wald herumstreunen, haben sie Günter oft im Schlepptau. Als die Clique wieder einmal auf Abenteuer aus ist und Günter sich nicht so einfach abschütteln lässt, entscheiden sich die Jungen zu handeln. „Wer nicht hören will, muss fühlen“ – nach dieser Devise der Erwachsenen soll es auch Günter ergehen: Die Kinder, vorneweg Leonhard, fangen an, Günter zu quälen, um ihn endlich loszuwerden: „Leonhard packte ihn und hielt ihn fest. Erwin pinkelte ihm in eine Hosentasche, Manni in die andere.“ Als Günter daraufhin noch immer nicht geht, stecken ihn die Kinder unter eine umgekippte Lore und bewerfen diese mit dicken Feldsteinen. „Es donnerte gewaltig. [...] ‚Damit du weißt, was du für einer bist! Nimm dich ja in Acht! Wir machen dich fertig, du Stück Mist!‘“

Der Krieg und die Gewalt haben tiefe Spuren bei den Kindern hinterlassen. Ohne, dass mit ihnen darüber gesprochen worden ist, haben sie doch mitbekommen, was in dieser Zeit vor sich gegangen ist und wie die Erwachsenen im Krieg gehandelt haben: „Was Leonhard da gesagt hat, dass die Erwachsenen die Blöden umgebracht haben. Glaubst du das?“

Als Günter am nächsten Tag nicht zur Schule kommt, plagen Freddy und seine Freunde Schuldgefühle, aber vor allem haben sie Angst, der Junge könne sie verraten. Auf verständnisvolle Erwachsene können die Kinder kaum hoffen. Erfahren die Eltern die Wahrheit, droht den Jungen Prügel, wenn nicht das Erziehungsheim. Um unbestraft aus dieser Sache wieder herauszukommen, entwickelt Leonhard einen Plan: Günter muss verschwinden. „Jemanden verschwinden lassen hörte sich harmlos an. Er meinte es aber nicht harmlos. Verschwinden lassen hieß, jemanden aufhängen, mit dem Knüppel erschlagen. Günter erschlagen, bis er sich nicht mehr rührte. Wie eine Katze, die niemand mehr will.“ Keines der anderen Kinder widerspricht dem Rädelsführer, doch für Freddy ist dieser Plan die falsche Lösung. Verzweifelt versucht er, einen Weg zu finden, um aus dem Dilemma herauszukommen.

Zuerst scheint für Freddy nur die geplante Art und Weise, Günter verschwinden zu lassen, falsch zu sein. Als er sich aber dann ab und zu mit Günter trifft und merkt, dass dieser gar nicht so dumm ist, ja, dass er von Pferden sogar viel mehr versteht als der Pferdenarr Freddy, schaltet sich zunehmend auch sein Gewissen ein. Er vertraut sich schließlich seinem älteren Vetter Fritz an, der ihm jedoch nicht weiterhelfen will. Daraufhin gesteht der Junge dem Nachbarmädchen Luise seinen Konflikt und erzählt ihm von dem ungeheuren Plan. Freddy weiß, dass Luise Courage hat, und bittet sie daher, am Tag des Geschehens einzugreifen. Freddy schafft es nicht, die Sache vorher in den Griff zu bekommen. Erst als – kurz vor der Ausführung des grausamen Plans – ein Erwachsener interveniert, wird allen Jungen der Bande klar, was sie Schlimmes vorgehabt haben.

Die Geschichte in Hermann Schulzes Roman „Warum wir Günter umbringen wollten“ wird aus der Ich-Perspektive des Protagonisten Freddy erzählt. Dennoch wird dem Leser kaum eine Möglichkeit geboten, sich mit dem Ich-Erzähler zu identifizieren. Begründet ist dies durch eine sehr distanzierte Art des Erzählens, welche kaum Sympathie für den Erzähler aufkommen lässt und eine bedrückende Stimmung beim Leser verursacht. Wie der Autor in einem Interview bekundete, handelt es sich beim Erzählten um eine autobiografische Geschichte. Dieses Hintergrundwissen verstärkt die beklemmende Stimmung des Buches zusätzlich.

Hermann Schulz liefert mit „Warum wir Günter umbringen wollten“ einen Roman, der die Situation der Kinder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ihr Leben ohne Väter, ihre Unsicherheit und Unwissenheit schildert. Eine Aufarbeitung der Kriegserlebnisse und der Verwerfungen aus der Zeit der Diktatur findet nicht statt – im Gegenteil: In nahezu jeder Zeile spürt man das Stickige und Verlogene einer autoritären Gesellschaft, in der kaum jemand Verantwortung übernimmt und in der Aufrichtigkeit und Zivilcourage wenig zählen. Durch die detaillierte und hellsichtige Beschreibung dieser Umstände zeichnet der Autor ein sehr plastisches Bild der Zeit. Die einzelnen Figuren wirken auf sich zurückgeworfen, oft auch niedergedrückt. Ihre Beziehungen zueinander erscheinen als oberflächlich und lassen eine Dumpfheit innerhalb der Freundschaften, aber auch der Familien erkennen; Gewalt und Gewaltandrohungen gehören offenkundig zum Alltag. Diese Dumpfheit bzw. Verstörtheit zieht sich durch das gesamte Buch und erzeugt eine emotionale Grundspannung, die daraus resultiert, dass der Leser permanent das Gefühl hat, eingreifen zu wollen, was ihm selbstverständlich verwehrt ist.

Maria Luisa Wittes Illustrationen beeinflussen die Gefühle des Lesers zusätzlich. Neunzehn Doppelseiten mit entweder einem zusammenhängenden Bild oder zwei separaten Bildern erzeugen eine weitere Verstehensebene. Diese entsteht durch die Stimmung und die Atmosphäre, die die maximal vierfarbigen Bilder übertragen. Auch die Illustrationen wirken dunkel, stumpf und unklar. Sie sind schemenhaft und deuten zum Teil nur Umrisse an. Dargestellt werden entweder die Umgebung und die Natur oder die Menschen und die Tiere. Gesichter der Protagonisten sind nur selten zu erkennen. Die Bilder unterbrechen den Text und beziehen sich teilweise auf nahestehende Passagen, häufiger aber wird allgemein Atmosphäre und Stimmung des Erzählten ausgedrückt. Dadurch wird der Leser bei der Lektüre immer wieder aus seinem Lesefluss herausgerissen. So erzeugt auch die Bildebene eine Distanz zwischen dem Leser und der Geschichte.

„Warum wir Günter umbringen wollten“ ist ein lesenswerter kurzer, eher novellistischer Roman, der das Thema ‚Nachkriegszeit‘ unter einem neuen Blickwinkel angeht. Hermann Schulz schafft es, eine Begebenheit in einem historischen Rahmen spannend zu erzählen und die bedrückende Stimmung dieser Zeit nachhaltig in Worte zu fassen. Der Verlag empfiehlt das mit einem hilfreichen Glossar ausgestattete Werk mit dem verstörenden, aber treffsicheren Titel jungen Lesern ab zehn Jahren, wobei bei diesen schon eine gewisse Lese- und Welterfahrung vorhanden sein sollte. Aufgrund der komplexen Thematik erscheint eine Empfehlung ab zwölf Jahren hier wohl sinnvoller.

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