Orosz, Susanne: Lenis Lied
„Ich bin ja jetzt kein Kind mehr, sondern ein großes Mädchen“
von Eileen Schütt (2013)
Februar 1948. In Wien sind die Spuren des Krieges noch überall zu erkennen, an den Straßen und Häusern, aber auch an den Menschen. Die neunjährige Leni kehrt aus der Klosterschule nach Hause zurück. Sie ist heilfroh, endlich den Zwängen der schrecklichen Anstalt zu entkommen. Vage spürt sie jedoch, dass sich bereits nächstes Unheil anbahnt, als nicht die geliebte Mutter sie von der Klosterschule abholt, sondern die Tante. Zu Hause ist alles ganz anders als erwartet. Lenis Eltern haben in ihrem Wirtshaus alle Hände voll zu tun, Tante Josepha sorgt sich nur um ihren vermissten Ehemann, und niemand hat Zeit für Leni. Schmerzlich wird dem Mädchen bewusst, dass die Erwachsenen sich verändert haben, dass nichts mehr ist wie früher. In der Familie herrscht eine angespannte Stimmung. Lenis schnell reizbarer Vater, der offenkundig von seinen Kriegserlebnissen traumatisiert ist und gleichzeitig seine Rolle als zurückgekehrtes ‚Familienoberhaupt‘ zu behaupten trachtet, reagiert oft genervt und lässt seinen Frust vor allem an der Tochter aus. Nicht nur einmal rutscht ihm dabei die Hand aus. In der Schule gerät Leni in ein weiteres bedrohliches Umfeld, sie wird ausgegrenzt und gehänselt. Immer wieder gerät Leni in Konfliktsituationen, in denen sie versucht, alles richtig zu machen, und dennoch steht sie am Ende oft unberechtigt als die Schuldige dar.
Die einzige Person, bei der Leni Vertrauen und Zuneigung findet, ist die Nachbarin Frau Albrecht. Schon äußerlich ist sie ein Gegenpol zu den anderen Erwachsenen: Sie ist immer gut gelaunt, tanzt gerne, ist chic und bunt gekleidet und zeigt dem Mädchen ganz aufregende Sachen. Durch sie kommt Farbe in Lenis trostlosen Alltag. Mit Frau Albrecht kann man Tee trinken, Radio hören, ins Kino gehen und die Militärparade bewundern. Wie beeindruckt ist Leni doch von der Trompetenmusik der amerikanischen Soldaten! Als auch Frau Albrecht sie im Stich lässt – sie geht eine Liaison ein und zieht ans andere Ende der Stadt – und eine unberechtigte Schuldzuweisung in der Schule fast dazu führt, dass Leni wieder ins Kloster muss, hält sich das Mädchen tapfer und versucht, selbst die Initiative zu ergreifen. Unterstützung erfährt sie dabei von einem älteren Jungen, der in den Trümmern zu Hause ist und sich allein durchs Leben schlägt. Durch ihn schöpft Leni den Mut, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Am Ende kann sogar ihr Vater noch von ihr lernen.
Die Geschichte wird aus Lenis Sicht erzählt. Durch die kindliche Perspektive erscheinen manche Wahrnehmungen als verzerrt, in einen eigenwilligen Bezugsrahmen gestellt, häufiger auch als seltsam beklemmend oder, im Gegenteil, verharmlosend. Mit kleinen, aber deutlichen Signalen wird der (wohl eher erwachsene) Leser auf bestimmte Umstände hingewiesen, die Leni nicht zu deuten weiß, z. B. die Schwangerschaft der Mutter. Das durchgängig präsentische Erzählen suggeriert eine mögliche Ergebnisoffenheit der Geschichte, aber dem Leser wird bald schmerzhaft bewusst, dass Lenis Weg vorgezeigt ist: Sie muss sich dem tyrannischen Verhalten ihres Vaters beugen. Wie Leni erkennt, dass nicht alles so werden wird wie früher, wie sie sich trotzdem entwickelt und Eigenständigkeit gewinnt, wird von Susanne Orosz, der gebürtig aus Wien stammenden Autorin, mit feinem psychologischen Gespür entfaltet. Der Leser erhält dabei einen sehr anschaulichen Einblick in die Gefühlswelt des Mädchens. Nicht zuletzt das präsentische Erzählen verstärkt die Unmittelbarkeit: Man bekommt einen sehr authentischen und zugleich emotionalen Zugang zu Leni. Dieser wird erleichtert durch die bildhafte Sprache, mit der die Ich-Erzählerin ihre Gefühle zum Ausdruck bringt: „Mein Herz ist überhaupt kein verkohltes Holzstück. Es ist da und ich kann spüren, wie es brennt und schlägt.“
Die Welt, in der Leni lebt, ist geprägt von Gefühllosigkeit, Bedrohung und einer bedrückenden Stimmung. Dies ist im Kleinen zu spüren wie auch im Großen, auf der Familienebene wie auch in Bezug auf die trostlosen Lebensbedingungen der Nachkriegszeit. Diese sind für die Familie wohl durch den Umstand gemildert, einigermaßen versorgt zu sein, doch zerstörte Häuser und Straßen, gefährliche Blindgänger und Schleichhändler auf dem Schwarzmarkt gehören auch zu Lenis Alltag. Wenn sie beim Spielen auf einem Trümmergrundstück in ein tiefes Loch schlittert und dort gefangen ist, zeigt dies auch auf räumlich-symbolischer Ebene, wie sehr die Verhältnisse ‚ins Rutschen‘ geraten sind. Es ist gleichwohl beeindruckend zu sehen, wie Leni dennoch versucht, sich diesen schwierigen Verhältnissen anzupassen. Weil sie sich biegsam in alles fügen möchte, bleibt ihr jedoch kaum noch Platz für kindliches Verhalten, zumal sie nun „ein großes Mädchen“ ist, von dem die Familie ‚Vernunft‘, Verständnis und Rücksichtnahme einfordert und ansonsten mit der Rückschaffung ins Kloster droht. Leni wünscht sich familiäre Liebe und Geborgenheit, sie sehnt sich nach der alten, im Krieg bewährten Bindung zu ihrer Mutter. Sie versteht nicht, dass die Situation jetzt anders ist, dass man ihr mit Drohungen und Gewalt begegnet, dass der Vater so gar nichts von ihr wissen will: „Geh, verschwind aus meinen Augen. Du bist zu nichts zu gebrauchen. Ich hab gleich gesagt, dass du nicht hierher gehörst.“
Etwas, das Leni aus den Zwängen ihres Alltags herausführt, ist die Musik. Vor allem Trompetenmusik fasziniert das Mädchen. Durch die gesamte Geschichte zieht sich eine immer wiederkehrende Trompetenmelodie. Sie hat etwas Geheimnisvolles an sich und scheint dem Mädchen den Weg aus der Dunkelheit zu zeigen und es daran zu erinnern, den Mut nicht zu verlieren. Ganz allein schafft es Leni, die Trompetenspielerin, die sie immer einmal treffen wollte, zu finden, und am Ende darf sie sogar selbst einmal auf der Trompete spielen.
„Lenis Lied“ ist ein Übergangsbuch, das sich an Kinder ab elf Jahren wendet. Es mag durchaus empfehlenswert sein, sich mit dem Buch auch an etwas ältere Kinder bzw. Jugendliche zu richten, da diese mit dem geschichtlichen Hintergrund ein wenig besser vertraut sein könnten. Dies ist jedoch keine Notwendigkeit; manche Situationen wären dann jedoch vielleicht besser verständlich. Auch für Erwachsene kann die von Susanne Orosz mit viel Wiener Lokalkolorit (Dialektismen werden in einem hilfreichen Glossar erläutert) authentisch und feinfühlig erzählte Geschichte sehr fesselnd und bewegend sein.