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Martin Baltscheit und Christine Schwarz:
Das Gold des Hasen
Weinheim u. a.: Beltz & Gelberg 2013
46 Seiten
14,95 €
Bilderbuch ab 5 Jahren

Baltscheit, Martin und Christine Schwarz: Das Gold des Hasen

Angsthase Wolf

Julian Ruttloh (2013)


Es beginnt mit einem Todesfall. Nach langen Jahren des angstvollen Ausharrens kann auch der Hase dem Tod keine Haken mehr schlagen. Und da er zu Lebzeiten immer Angst vor den anderen Tieren gehabt und sich in seinem Haus verschanzt hat, um seinen Besitz zu hüten, gibt es auch keine Freunde – niemand vermisst ihn. So entdecken die anderen Waldbewohner ihn erst Monate später, begraben ihn und machen sich daran, sein Testament zu vollstrecken: Der größte Angsthase im Wald soll das unermessliche Vermögen des Hasen erben. Und so erzittert der ganze Wald vom Wehklagen aller Tiere. Alle versuchen, sich in ihrer Angst zu überbieten. Die Eule fürchtet, das Falsche zu sagen; die Hühner leiden unter angeborener Fuchsangst, und der Karpfen ist in Sorge um seine ungeschlüpften Kinder. Doch am Ende ist es der Wolf, der mit seiner herzerweichenden Geschichte alle um die kleine Kralle wickelt. Diesem vermeintlich größten aller ‚Angsthasen‘ fällt daraufhin das Erbe zu, doch zeigt er bald sein wahres Gesicht – denn er hat alle belogen, um an den Schatz zu kommen. Auf diesem sitzt er von nun an Tag für Tag, und langsam kriecht ihm echte Angst in Mark und Bein: Schließlich könnte ihm genommen werden, was er sich so mühsam ergaunert hat. Und so bleibt er, der große Wolf, vor dem sich alle fürchteten, am Ende als einsamer, angstvoller Gefangener seiner Gier zurück.

In ihrem gemeinsamen Bilderbuch-Projekt „Das Gold des Hasen“ erzählt das Autoren-Illustratoren-Team Martin Baltscheit und Christine Schwarz eine Geschichte über die lähmende Kraft der Angst – vordergründig amüsant, tatsächlich jedoch mit psychologischem Tiefgang. Es ist eine Parabel um Verlustangst, die entsteht, wenn man aus Gier so viel materielle Habe anhäuft, dass deren Besitz belastet. Die Angst ergreift vom Gierigen Besitz und lässt ihn einsam und hungrig zurück. Das ist die Quintessenz und implizite Moral des Bilderbuches, die sich der Leser aus dem offen gehaltenen Ende um das Schicksal des Wolfes erschließen kann: In die Enge getrieben und von der Last seines Besitzes beschwert, ist er in den Fallstricken gefangen, die er selbst ausgelegt hat.

In kraftvollen Bildern zeichnen die Autoren eine Geschichte, die vor dem Hintergrund steigender sozialer Kälte sowie der gesellschaftlichen Diskussion um Habgier eine ganz eigene, aktuelle Wirkmächtigkeit zu entwickeln vermag. Handwerklich souverän entfalten der mehrfach ausgezeichnete Baltscheit (u. a. Träger des Deutschen Jugendliteraturpreises 2011) und seine Ko-Autorin Schwarz ihre Parabel um diesen Aussagenkomplex herum. Einem jungen Leser wird sich dies sicherlich nicht sofort erschließen – einem reiferen Leser jedoch, der den Blick vor den häufig ironischen Details nicht verschließt, werden sie ins Auge fallen. Dabei entwickelt die Geschichte mitunter auch eine makabre Doppelsinnigkeit: Die Sätze zum Beispiel „‘Wer keine Zukunft hat, dem nützt auch keine Angst davor‘, sagte die Eule. Damit war die Fliege aus dem Rennen.“ liest man erst einmal so, als ob die Fliege mit ihren Argumenten nicht überzeugt hätte und aus dem Kreis der Erbekandidaten ausgeschieden sei. Ein Blick auf die Bildseite belehrt den Betrachter eines Besseren: Die Eule ist bereits dabei, die Fliege zu verspeisen …

Auf 37 illustrierten Doppelseiten sind Text (links) und Bild (rechts) einander gegenübergestellt; liebevoll und kontrastreich gemalte Bilder in Acryl korrespondieren dem begleitenden Text, weisen z. T. in ihrem Gehalt dabei deutlich über ihn hinaus und entwickeln eigene Bedeutungsebenen. So zeigen irgendwann etwa auch die Bäume ihre Zähne und unterstreichen so die aggressive Grundstimmung im Wald, und das Heim des Hasen ist ausgestattet mit Zügen eines trostlosen Hochsicherheitstraktes. Inhaltliche Zäsuren werden durch Veränderungen der Text-Bild-Zuordnung unterstrichen. Wo nötig, variieren Baltscheit und Schwarz die Anordnung von Text und Bild: Als das ‚Wettklagen‘ der Waldbewohner seinen Höhepunkt erreicht und im Auftritt des Wolfes kulminiert, wird das Bild nach links, der Text nach rechts verlagert. Die Schrift ist in Schwarz gehalten, markante Begriffe und Aussagen sind in Goldgelb gedruckt. Grade letztere Farbe verweist gekonnt auf das Vorhandensein des Hasengoldes als treibendes Agens. So nachvollziehbar die vorgetragenen Argumente der Tiere auch sein mögen, weshalb gerade sie die größten Angsthasen seien: Das Goldgelb wirkt immer wie ein impliziter Verweis auf ihre eigentlichen Absichten, sich selbst das Gold des Hasen zuzuschanzen. In der Klagerede des Wolfes – sie wird bildkompositorisch durch eine das bisherige Layoutmuster sprengende, kleinteiligere Bild-Text-Zuordnung markiert – wird die Schriftfarbe Schwarz dann folgerichtig durch das Goldgelb an den Rand gedrängt.

Die Figuren sind in kraftvollen Farben vor dunklen, aber selten bedrohlich wirkenden Hintergründen gemalt; irgendwo scheint immer ein Lichtstrahl – es sei denn, es geht um die Moral der Geschichte. Die tierischen Protagonisten sind meist karikaturhaft überzeichnet, jedoch gleiten die Bilder erst mit dem zunehmenden Hineinsteigern in die eigenen ‚Ängste‘ ins Surreale ab – je ‚ängstlicher‘, desto abstrakter (z. B. die Augengröße), womit die Illustratoren gekonnt unterstreichen, wie Angst die Persönlichkeit aufzulösen vermag. In diesem Punkt werden die Bewohner des Waldes in ihrer Angst und Gier alle gleich.

Am ausdrucksstärksten aber sind wohl die Bilder, die sich um den namensgebenden Hasen drehen. Bereits auf dem Titelbild scheint der Hase den Leser anzuschauen, was jedoch trügt. Der Hase hat, mit angelegten Ohren, seinen Blick angstvoll auf ein Fenster im Hintergrund gerichtet, das man als Reflektion in seinen Augen erkennt und dessen Streben an Gitterstäbe erinnern. Mit dieser wohl besten bildlichen Metapher des ganzen Buches unterstreicht das Autorenteam, wie Angst einen Menschen zu einem Gefangenen seiner Besitzgier werden lassen kann.

Stimmungsvoll ist die humoristische Art und Weise, mit der die Tiere geschildert werden und die zum Teil an Verballhornungen ihrer traditionellen Fabelattribute erinnern. Beispielsweise beweist die schlaue Maus ihre Intelligenz nur darin, möglichst viele ihrer Fressfeinde aufzuzählen. Voll Ironie und Witz ist auch die Annäherung an das klassische Märchen und seine Motive. Augenzwinkernd stellt sich der Wolf dabei als das Opfer skrupelloser Großmütter, arglistiger Jäger und rot-berobter kleiner Mädchen dar; er werde von Schafen in die Flucht geschlagen, sei ohnehin Vegetarier und habe am meisten Angst vor seinem eigenen, schlechten ‚Image‘ als „der große, böse Wolf“. Diese Herangehensweise ermöglicht es jungen Lesern, die bekannten Stereotypen des Märchens und das Verhalten seiner Figuren mit den abweichenden Äußerungen des Wolfes dazu zu vergleichen und so erste Erfahrungen mit literarischer Ironie zu machen.

Was lässt sich abschließend über dieses Bilderbuch sagen? „Das Gold des Hasen“ ist ein Gesamtkunstwerk; oberflächlich betrachtet ist es eine leicht morbide, in lockeren Bildern geschilderte Parabel über die Furcht vor Besitzverlust. Geht man in die Tiefe, so ergeben sich psychologisch intensivere Zugänge zu den Themen Gier und Angst, als man sie bei einem Kinderbuch erwarten würde. Das Bilderbuch ist handwerklich hervorragend gemacht, inhaltlich auf eine fast schon poetische Art und Weise durchkomponiert und lädt dazu ein, das durchaus schwierige Thema gemeinsam auch mit jungen Lesern zu erforschen. Denn am Ende gilt die Sentenz von Epikur: Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug.

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