Leseprobe „Lyrik nervt!“
Irgendwann, vor ungefähr hundert Jahren, hatten immer mehr Künstler das Gefühl: So kann es nicht weitergehen! Sie fingen an, Bilder zu malen auf denen immer weniger zu sehen war, und das nannten sie: Kubismus, Expressionismus, Dadaismus, Suprematismus, Abstraktion. Andere schrieen: Alles, was vorher war, gehört auf den Müll! Museen anzünden, Opernhäuser in die Luft sprengen!
Das Publikum war erschrocken, und die Künstler freuten sich über den Krach.
Unter diesen Umständen hatten auch die Dichter keine Lust mehr, einfach weiterzumachen wie gehabt. Schluss mit dem Silbenzählen! Schluss mit den perfekt genormten Strophen! Schluss mit der ewigen Reimerei! Ich persönlich kann diese Leute gut verstehen. Es wundert mich nicht, dass ihnen mulmig zumute war. Schon lange vor Robert Gernhardt fanden sie das Sonett beschissen. Das ganze Geleier ging ihnen auf die Nerven. Immer mühsamer war die Suche nach einem neuen, einem überraschenden Reim geworden. Sogar der ziemlich ausgefuchste Rilke (Rainer Maria nannte er sich) ging bei dem Versuch, noch etwas Unerhörtes aus dem Reimlexikon herauszuholen, baden.
(S. 48)