Lembcke, Marjaleena (Text) und Sybille Hein (Illustration): Ein Märchen ist ein Märchen ist ein Märchen
Das Märchen vom einfallslosen Schriftsteller
oder:
Eine Königsfamilie auf der Suche nach dem Ende ihrer Geschichte
von Hannah Wilhelmy (2005)
Was passiert eigentlich mit den Figuren einer Geschichte, wenn ein Schriftsteller plötzlich in eine Schaffenskrise gerät und mit seiner Geschichte nicht mehr weiterkommt? Genau diese Frage macht Marjaleena Lembcke zum zentralen Thema in „Ein Märchen ist ein Märchen ist ein Märchen“, einer Märchenparodie über eine Königsfamilie, die bei der Suche nach dem Verfasser ihres Märchens jede Menge Abenteuer durchleben muss.
Aber beginnen wir am Anfang: „Ein König, eine Königin und eine Prinzessin wohnten in einem großen Märchenschloss, das von einem wunderschönen Rosengarten umgeben war.“ Eines Tages sitzen die Majestäten am Frühstückstisch und stellen verwundert fest, dass das Personal nicht mehr ihren Anweisungen folgt. Wie soll es auch, wenn dem Autor nicht mehr einfallen mag, wie das Leben seiner Figuren weitergehen könnte? Die Königsfamilie jedoch beschließt umgehend, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und begibt sich alsbald auf die Suche nach dem Schriftsteller in die ‚reale Welt’.
Dieser trifft zur selben Zeit auf einen Stadtstreicher und klagt ihm sein Leid. Der Stadtstreicher schlägt ihm diverse Fortläufe seines Märchens vor, doch stellt der Schriftsteller schnell fest, dass diese bereits vergeben sind. Die intertextuellen Bezüge zu anderen Märchen wie z. B. Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ werden geschickt eingesetzt und spielen mit dem Vorwissen des Lesers. So kommt es, dass eine Hexe der Prinzessin anstelle eines Apfels eine Birne schenkt und sich augenblicklich in den ‚Gestiefelten Kater’ verwandelt. Um diese parodistischen Momente zu verstehen, sollte der Leser neben der Kenntnis klassischer Märchen auch Einblick haben in deren Muster.
Doch zurück zu unserer Königsfamilie: Auf der Suche nach ihrem Erschaffer begegnen die Herrschaften weiteren Figuren aus dessen unbeendeten Geschichten, die ihnen nicht immer eine Hilfe sind, und so dauert es lange, bis sie endlich den Schriftsteller finden. Dass sie eine ihnen fremde Welt betreten, in der sie nicht wahrgenommen werden, macht die Sache nicht leichter. All zu komisch ist es für den Leser, wenn die königlichen Damen sich auf eine ‚Shoppingtour’ begeben, ohne dabei zu merken, dass die Menschen, die ihnen begegnen, sie weder sehen noch hören können.
Aber ein Märchen wäre nicht ein Märchen, ginge nicht am Ende alles gut aus. Wachgerüttelt durch den Hinweis der autonom gewordenen königlichen Familie, „ein Schriftsteller trage die Verantwortung für seine Figuren“, überwindet dieser seine Schreibblockade und findet ein gutes Ende für jede seiner Figuren und damit auch für sein Märchen.
„Ein Märchen ist ein Märchen ist ein Märchen“ begeistert durch seine ironisch-lakonische Sprache, die im Kontrast steht zu der der Märchen aus vergangenen Jahrhunderten. Diese spiegelt sich besonders in den Figuren des Königs, der dank seines leichtgläubigen Charakters später vom Schriftsteller „König Naiv“ getauft wird, und der eher wortkargen Königin wider.
Ebenso gelungen sind die bemerkenswert phantasievollen Aquarellzeichnungen von Sybille Hein, die sich großflächig auf den Seiten ausbreiten. In den Illustrationen kann man Bestandteile eines Buches wie Buchstaben und Seitenzahlen entdecken, die das Thema der Begegnung zwischen der realen Welt und den Geschichten des Schriftstellers verdeutlichen.
Marjaleena Lembcke bricht in ihrem Werk mit den Konventionen des klassischen Märchens, ohne dabei dessen Muster aus der Hand zu geben. Sie bringt aktuelle Themen wie „Selbstverantwortung“ und „Angst vor dem Unbedeutendsein“ in das Geschehen mit ein und nimmt den Leser mit in das schönste aller Märchen: das Märchen von der Suche nach dem eigenen Glück.