Richter, Jutta (Text) und Quint Buchholz (Illustration): Hechtsommer
Die Zeit festhalten ...
von Malte Weber (2005)
„Es war so ein Sommer, der nicht aufhört. Und dass es unser letzter sein würde, hätte damals keiner geglaubt.“ Mit diesen Worten beginnt Anna die Geschichte eines Sommers, ihres Sommers, des letzten Sommers ihrer Kindheit. Sie erzählt die Geschichte von Freundschaft und Zusammenhalt, von Tod und Trauer; die Geschichte einer Jagd nach dem Hecht, einer Jagd nach der Hoffnung, dass alles wieder so wird, wie es früher war.
Zu Beginn der Erzählung wird das idyllische Bild zweier eng befreundeter Familien gezeichnet. Sie leben gemeinsam als Angestellte auf dem Gelände eines Schlosses. Da ist Anna mit ihrer Mutter – Annas Vater hat seine Familie schon vor einigen Jahren verlassen –, und da sind Daniel und Lukas mit ihren Eltern Peter und Gisela. Dass Gisela krank ist, wissen die Kinder. Doch dass sie Krebs hat, wollen die Erwachsenen ihnen nicht sagen. Wie schwer und schließlich auch aussichtslos ihre Krankheit ist, können und dürfen die Kinder anfangs nur ahnen. Doch irgendwann wird aus der lang gehegten Befürchtung Gewissheit. Anna, die Älteste der drei Kinder, versucht sich und vor allem Daniel zu trösten und Mut zuzusprechen, denn sie weiß: „Niemand war wieder gesund geworden, nachdem das Wort ‚Krebs’ gesagt worden war.“
Genauso unbezwingbar wie Giselas Krankheit scheint der Hecht auf dem schwarzen Grund des Schlossgrabens zu stehen. Ihn zu fangen, ist der Traum von Daniel und Lukas. Was zunächst nur den sportlichen Ehrgeiz und die Abenteuerlust der beiden Brüder weckt, wird für Daniel schon bald mehr. Denn nachdem all seine Gebete die Mutter nicht gesund gemacht haben, hat er aufgehört, an Gott und an Schutzengel zu glauben. Seinen Eltern glaubt er schon lange nicht mehr. So ruht seine letzte Hoffnung auf dem Hechtgott. Daniel glaubt fest daran, dass seine Mutter nur wieder gesund wird, wenn es ihm gelingt, den Hecht zu fangen. Anna weiß nicht, ob sie an den Hechtgott glauben soll, doch eine bessere Idee hat sie auch nicht. Die Kinder hoffen und zweifeln, sie fühlen sich einsam und hilflos, und dass es vielleicht weder einen Gott noch einen Hechtgott gibt, macht alles nur noch schlimmer.
Es gibt kein Happy End. Am Ende des Sommers hat Daniel den Hecht zwar gefangen, doch stirbt Gisela fast zeitgleich. Den Schmerz darüber hat Daniel schon lange zuvor in die Welt geschrieen: „‚ICH WILL DAS NICHT! ICH WILL DAS NICHT!’ Und bei jedem ICH WILL DAS NICHT schlug er mit der Stirn den Takt gegen den Baumstamm.“ Aber als es tatsächlich so weit ist, findet der Tod hinter geschlossenen Türen statt, irgendwann ist er einfach da und Anna, Daniel und Lukas sind viel zu sehr damit beschäftigt, den Hecht zu fangen, als dass sie ihn bemerkt hätten. Das Buch endet so leise, wie es begann. Mitten im Sommer.
Jutta Richter lässt Anna mit einer ruhigen und präzisen, mit einer eindringlichen und poetisch stark verdichteten Sprache die Geschichte ihres „Hechtsommers“ erzählen. Sie spielt mit der symbolischen Bedeutung von Dingen und Farben. Das fordert den Leser. So ist es ihr gelungen, ein Buch über die Kindheit zu schreiben, das Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen mit Gewinn lesen können.
Die Handlung dieser zeitlosen Erzählung rankt sich entlang wunderschöner Naturbeschreibungen, sie setzt Anfang Mai mit den ersten Blüten der Kastanienbäume ein und endet irgendwann im Hochsommer mit dem Tanz der Libellen. Mal fällt Annas Blick zurück in die Vergangenheit, auf die Zeit vor Giselas Krankheit. Mitunter scheint die Zeit stillzustehen, ganz so, wie Anna es sich wünscht. Teilweise schaut sie aber auch voraus und lässt den Leser ahnen, was am Ende des Sommers kommen wird.
Der Leser muss sich auf das langsame Erzähltempo und Annas Einschübe, Rückblenden und Detailbeschreibungen einlassen. Aber dies wird er gerne tun und so Annas Sommer „mitleben“. Er wird entführt in eine Welt der Ruhe, der Endlichkeit, der Darstellung des Unbeschreibbaren: der Trauer und des Schmerzes von Kindern und Erwachsenen. Es werden viele Fragen gestellt von Anna, Daniel und Lukas. Antworten werden nicht gegeben. Und so begleiten einen die Fragen nach Gott und nach dem Leben und Sterben auch lange nach dem Ende der Lektüre weiter.
Ebenso sei das gleichnamige – vom Westdeutschen Rundfunk produzierte und von Jutta Richter bearbeitete – Hörspiel empfohlen. Unterstützt von Klavier und Querflöte gelingt es den Sprechern um Anna Thalbach, Nina Petri und Celine Voigt, die beim Lesen entstandene Stimmung einzufangen und das Besondere des Buches auch auditiv erfahrbar zu machen.