Thalmayr, Andreas: Lyrik nervt!
Eichendorff und Fanta 4
von Christiane Eickel (2005)
Klasse 11, 1. Halbjahr, 2. Deutschklausur:
Analysiere das Gedicht „Umbra vitae“ von Georg Heym inhaltlich wie formal! Berücksichtige besonders auch die gestaltete Wirklichkeitserfahrung und epochentypische Merkmale des Gedichts!
Uhhhaaa, bei solchen Aufgaben läuft den meisten Schülern ein kalter Schauer über den Rücken: Gedichtsinterpretationen, nein danke! Und den Erwachsenen geht es meist nicht besser. Gedichte sind langweilig, kompliziert und nur etwas für Experten. Sie gehören in schön gestaltete, kleine Bändchen und sollen da auch bleiben. Mit einem Satz: Lyrik nervt!
Und genau hier setzt das gleichnamige Buch von Andreas Thalmayr an. Der Autor solidarisiert sich zunächst mit seinen negativ vorbelasteten Lesern, zeigt ihnen aber dann, dass es „überhaupt kein Gehirn in der Welt“ gibt, „in dem es nicht von Gedichten wimmelt“. Was ist denn mit ,Ene mene Miste, es rappelt in der Kiste’, der Nationalhymne, Reklamesprüchen oder den Reimen der Fanta 4? Auch das sind Gedichte, die uns fast überall und jeden Tag begegnen.
Durch Thalmayrs sachkundige, ausführliche Erklärungen, gespickt mit Vergleichen und Beispielen, lernt der Leser eine Menge über Inhalt, Form und Aufbau von Gedichten sowie über die Tricks und Kniffe der Dichter und bekommt dabei einen neuen Blick auf die Lyrik: Ganz unverkrampft wird hier mit Poesie umgegangen. Lyrik ist ein Spiel, das abwechslungsreich und spannend sein kann. Und das wird vermutlich auch das angepeilte Lesepublikum – „Jugendliche zwischen 12 und 20 Jahren, die in der Schule getriezt werden“ – in diesem Buch entdecken.
Der Aufbau des Buches ist klar gegliedert. Der Autor beginnt ganz grundlegend mit der Frage, was ein Gedicht eigentlich sei, und erläutert dann Schritt für Schritt alle wichtigen Bereiche der Poesie. Vom Tanzen der Verse – in der Fachsprache auch Jambus, Trochäus, Daktylus und Anapäst genannt – geht es über die „Ideen- Maschine“ Reim bis zu Sonett, Ghasel und anderen Formen. Es folgen freie Verse und wilde Experimente aus der Moderne sowie Metaphern und andere stilistische Mittel. Im Kapitel „Kannitverstan“ erklärt der Autor sogar, dass es Gedichte gibt, die gar nichts direkt aussagen wollen oder deren Aussage ganz vom Leser abhängt. Zum Abschluss ist der Leser dann noch selbst als Dichter gefragt, die unterhaltsamen Anleitungen und praktischen Beispiele auszuprobieren.
All dies ist verpackt in eine lockere, jugendliche Umgangssprache, die an manchen Stellen jedoch etwas aufgesetzt erscheint. Da wird das Sonett dann zur „Designer- Strophe“ und Homers „Odyssee“ zur „äußerst starken Story, besser als jedes Drehbuch“. So bekommt man den Eindruck, dass es sich bei Thalmayrs „Lyrik nervt!“ um einen abgespeckten und jugendlich aufgepeppten Abklatsch seines zuvor veröffentlichen Lyrikratgebers „Das Wasserzeichen der Poesie“ handelt.
Dennoch machen der trockene Humor und der ironische Unterton das Buch zu einem Lesevergnügen. Wer muss nicht schmunzeln über die Seitenhiebe auf Dichter und Wissenschaft, wenn der Autor z. B. die „Pisaner Gesänge“ als „derart freches Kuddelmuddel“ und deren Dichter Ezra Pound als „unverschämten Hochstapler“ bezeichnet? Vor allem wenn man weiß, dass hinter dem Pseudonym Andreas Thalmayr der bekannte deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger steht.
Aber nicht nur die Erklärungen machen Lust auf Lyrik, sondern besonders die Gedichte selbst. Heben sie sich schon durch die signalrote Farbe vom Rest des Buches ab, so zeigt die Auswahl der Gedichte den Reichtum der Lyrik. Da stehen Klassiker neben HipHop- Songs, abstruse, moderne Verse neben Volksliedern, frivole Phantasien neben Gruselschockern. Es gibt schlechte, banale Gedichte neben solchen, die vielleicht gar keine mehr sind und und und ... Die Gedichte versinnlichen die Sachinformationen des Buches und laden zu eigenen kleinen Entdeckungen ein: Es leiert und rappelt, es verzaubert und provoziert, es klingt und singt.
Das Hörbuch zu „Lyrik nervt!“ bietet darüber hinaus das Vergnügen, den Klang und Rhythmus der Gedichte zu erleben. Hans Magnus Enzensberger gibt die Sachinformationen, drei weitere Sprecher rezitieren die Gedichte und helfen dem Hörer, deren Schönheit oder auch Absurdität wahrzunehmen. Die Sprecher setzen ihre Stimmen gekonnt ein, um die Variationsbreite in Form und Aussage zu verdeutlichen. Daneben sind es aber gerade auch die Originalaufnahmen von Gottfried Benn, Ernst Jandl, Robert Gernhardt oder den Comedian Harmonists, die beim Leser Eindruck hinterlassen. Es ist schon ein Unterschied, ob man das Gedicht „schtzngrmm“ im Buch liest, oder Ernst Jandls eigener Lesung zuhört, in der er dreißig Sekunden im Schützengraben aufleben lässt. Buch und Hörbuch sind somit eine gute Ergänzung.
Thema der nächsten Klausur: Gedichte interpretieren und schreiben mit Andreas Thalmayr. Juhuu, da werden sich die Schüler freuen.