Ein südafrikanisches Waisenkind als Weltenschöpfer
Kann man J.R.R. Tolkiens Leben und Werk in einem Bilderbuch darstellen? Die Reihe „Little People, Big Dreams“ versucht es nicht ohne Erfolg.
Von Thomas Fischer (2025)
„Kleine Leute, große Träume“ – in dieser (auch in der deutschen Fassung natürlich mal wieder englisch benannten) Bilderbuchreihe sind bereits Dutzende Bände erschienen, die für Kinder im Grundschulalter berühmte Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Geschichte vorstellen. Dass bei dieser Adressierung extrem summarisch vorgegangen werden muss, ist ganz natürlich.
Leider liegen in dieser Reihe noch keine Titel zu Immanuel Kant oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor – dies wäre wirklich ein Prüfstein, abstrakte Höhenflüge des Geistes schon für kleine Kinder zugänglich zu machen. Doch die Darstellungen von Hannah Arendt, Stephen Hawking oder Alan Turing zeigen, dass dies grundsätzlich möglich ist.
Nun also John Ronald Reuel Tolkien, der unfreiwillige Ahnherr eines literarischen Genres, das er selbst niemals Fantasy genannt hätte. Denn der Oxforder Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft legte immer Wert auf die Feststellung, seine Welt namens Mittelerde keineswegs erfunden, sondern lediglich entdeckt und erforscht zu haben.
Die Autorin María Isabel Sánchez Vegara zeichnet den Lebensweg des Schriftstellers in groben Zügen, aber biografisch korrekt nach: Von der Geburt in Südafrika, dem frühen Tod der Eltern, der Vormundschaft unter dem strengen katholischen Pater Morgan bis zu der frühen Faszination für Sprachen und Mythen, dem Tod zahlreicher Freunde im Ersten Weltkrieg und der langen, erfolgreichen Professur in Oxford.
Das Leben des Weltenschöpfers verlief, zumindest in seinen späteren Phasen, eher dröge und gibt keinen rechten Stoff für Mythen ab: Ein Problem, dem etwa das Biopic Tolkien (2019) des Finnen Dome Karukoski entgeht, indem es sich auf die Jugendjahre seines Helden (und den Großen Krieg) konzentriert. Die Autorin unseres Bilderbuchs geht ebenfalls auf die turbulenten und teilweise traumatisierenden Erlebnisse der Jugendzeit stärker ein als auf den behäbigen älteren Professor, dessen Schrullen in Oxford legendär waren (so pflegte er beim Bezahlen im Supermarkt seine Dritten Zähne mit auf das Laufband zu legen). Dabei betont sie auch die Sprachbegabung Tolkiens, wobei sie aber leider seine Lieblingssprachen Walisisch und Finnisch nicht erwähnt.
Die Illustrationen von Aaron Cushley folgen der bewährten Manier der Reihe, den jeweiligen Promi gegenständlich in knallbunten Umgebungen zu zeigen, wahlweise auf grünstichigen Wiesen oder in wohlig-rotbraunen Wohnzimmern. Ob die Verniedlichung mit übertriebenem Kindchenschema dem großen Autor wirklich gerecht wird, sei dahingestellt. Immerhin gibt es wie in jedem Band einen Anhang, in dem größere Kinder und ihre Eltern Tolkiens Biografie als zusammenhängenden Text nachlesen können, sowie einige Fotografien aus seinem Leben.
Tolkiens Werk enthält für jedes Lebensalter die passende Lektüre: Die Briefe vom Weihnachtsmann eignen sich zum Vorlesen, der Hobbit und der Herr der Ringe für ältere Kinder und Jugendliche, und das Silmarillion („sterbenslangweilig wie ein schlechtes Schulbuch“, soll Umberto Eco geäußert haben!) ist eher etwas für Erwachsene. Warum sollte also der anachronistische Nachfahre der Beowulf- und Nibelungendichter nicht auch schon kleinen Kindern schmackhaft gemacht werden? Trotz der (durch die Reihe vorgegebenen) Einschränkungen darf das Buch also gerne auf dem (nächsten) weihnachtlichen Gabentisch liegen.
Bibliographische Angaben:
Sánchez Vegara, María Isabel und Cushley, Aaron (Illustrationen)
J.R.R. Tolkien
Berlin: Insel Verlag, 2023
32 Seiten