
„An diesen Dreckspickeln konnte ich eh nichts ändern.“
Von Thomas Fischer (2025)
Christoph Kramers „Das Leben fing im Sommer an“ ist der gefühlt tausendste Coming-of-Age-Roman der Saison – da muss er schon mit irgendeinem Alleinstellungsmerkmal aufwarten. Ist es die autobiographische Allüre?
Fußballspieler, die Bücher veröffentlichen, sind nicht gerade eine Seltenheit. Doch meistens handelt es sich um selbstbeweihräuchernde Autobiographien, die von ghostwritenden Bildzeitungs-Redakteuren verfasst wurden. Als ein Starkicker der Achtzigerjahre einst bei der Vorstellung seines Buches nach dessen Inhalt gefragt wurde, soll er mit entwaffnender Offenheit erwidert haben: „Keine Ahnung, ich hab‘s nicht gelesen.“ Doch Christoph Kramer, Jahrgang 1991, Weltmeisterschütze von 2014, hat sein Buch wahrscheinlich nicht nur gelesen, sondern auch selbst verfasst, und es ist äußerlich ein Roman geworden. Doch hat sich der Autor mit der Verschlüsselung von Namen, Daten und Toponymen nicht allzu viel Mühe gegeben – sicherlich handelt es sich dem Disclaimer im Impressum zum Trotz um einen, wie man es neuerdings nennt, „autofiktionalen“ Text – nun rätseln wir also, was „stimmt“ und was nicht…
Die im brütend heißen Weltmeisterschaftssommer 2006 angesiedelte Handlung ist so banal wie glaubwürdig: Der fünfzehnjährige Chris wächst im muffigen Solingen-Theegarten auf. Er hadert mit seiner Akne, begeistert sich für Fußball, ist in Maßen gläubig – und schwer verliebt. Doch schon einen Tag, nachdem er mit der angebeteten Debbie im Kino ausgiebig geschmust hat, wirft sie sich einem älteren Jungen an den Hals. Nach diesem Schock fährt er mit seinem besten Freund in einem geklauten Auto (Herrndorfs erst vier Jahre später erschienener Tschick lässt avant la lettre grüßen) nach Düsseldorf und treibt sich in einer Edeldisco herum. Ein liebeskranker Minderjähriger, der nachts am Steuer eines uralten Toyota Corolla mit 120 Sachen über die Autobahn brettert – das kann ja nicht gutgehen…
Die seltsame Struktur des Romans soll die Bedeutung der ersten Liebe unterstreichen. Drei umfangreiche Kapitel schildern die wichtigsten drei Tage im Leben des jungen Chris: Die Begegnung mit dem „schönsten Mädchen der Welt“, den spektakulären 45-minütigen Kuss im Kino sowie die Enttäuschung und Flucht am Tag danach. Vier weitere sehr kurze Abschnitte handeln äußerlich viel wichtigere Ereignisse wie Abitur und erfolgreiche Weltmeisterschaft ab, die aber vor dem überwältigenden Erlebnis der ersten großen Liebe demonstrativ zurücktreten.
Nun wäre es wohlfeil, sich über einen Fußballer mit Abitur lustig zu machen, der seine Jugendliebe ein wenig unbeholfen fiktionalisiert in Romanform darbietet, und in der Tat würde ein Register der Stilblüten den Umfang einer Rezension bei Weitem sprengen. Doch gilt es, der Spottlust Einhalt zu gebieten: Der überstrapazierte Begriff der „Authentizität“ – hier lässt er sich einmal guten Gewissens anwenden. Da haut ein unzuverlässiger, aber sympathischer Ich-Erzähler aus dem Bauch raus, was ihm in seiner Jugend am wichtigsten war, und natürlich ist es unser aller Jugend, die hier abgehandelt wird: Freundschaft, Schulprobleme, harte Prügeleien, weiche Drogen, gescheiterte Fluchtversuche – und natürlich die erste Liebe. Der erste Kuss. Die erste Enttäuschung. Der Fluchtreflex. Dergleichen rites de passage haben wir fast alle so oder ähnlich erlebt (wenn auch nicht immer mit Mädchen…).
Dieser Roman wird sein Lesepublikum vielleicht eher unter Sommermärchen-Nostalgikern als unter Jugendlichen finden, obwohl (oder weil?) er überraschenderweise kaum von Fußball handelt, dafür aber einige allerliebste Schwimmbadszenen enthält, wie sie in einem heutigen Jugendroman schon beinahe Pflicht zu sein scheinen (man vergleiche etwa Gabriel Herlichs Freischwimmer, Will Gmehlings Freibad, Stephan Lohses Das Summen unter der Haut, Victor Jestins Hitze usw.). Der Sprung vom Zehner als Sprung ins Erwachsenenleben: Diese plakative Symbolik, auch vom Umschlagbild genutzt, lässt sich Christoph Kramer nicht entgehen. Ob er wirklich das Zeug zum Schriftsteller hat oder sein als Selbsttherapie während einer längeren Verletzungspause entstandener Roman ein Solitär bleibt, wird die Zukunft weisen.
Bibliographische Angaben
Kramer, Christoph
Das Leben fing im Sommer an
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2025
246 Seiten
Leseprobe:
Plötzlich stand ich wieder hier oben. Unvorhergesehen… an den Weg hinauf konnte ich mich jedenfalls nicht mehr erinnern. Hier war es still, obwohl das ganze Freibad mit kreischenden Jugendlichen gefüllt war. Der Wind, fast ein bisschen kalt. Niemand sonst war gerade auf dem Zehner. Ich kannte das Gefühl des Absprungs. Ich wollte es. Mehr Anlauf als beim letzten Mal. Schneller als beim letzten Mal. Nur spürte ich den rauen Beton unter meinen Füßen nicht. Ich hatte das Gefühl, die ganze Welt sehen zu können. Die Farben wärmer und dicker als sonst, wie mit Wachsmalern gemalt.
Der Flug nur eine Sekunde. Eiiiiiiiinuuuuundzwwwanziiiig in meinem Kopf. Ein Meer aus Chlor und tausend weißen, kleinen Blubberblasen, ich sah nichts anderes. Alles ging so schnell. Drei kräftige Brustzüge. Mein Kopf schoss an die Oberfläche, zusammen mit dem leicht panischen Gefühl, endlich wieder Luft holen zu müssen.
Das Wasser schoss mir in die Augen. Verschwommen, wie durch einen Wasserfall, vermutete ich den fetten Bademeister. Er pfiff in seine Trillerpfeife, während sein Kopf rot anlief, und er zeigte auf mich. Glaubte ich. Ein weiterer Pfiff. Er lachte und streckte den Zeigefinger weiter in meine Richtung. Zeigte er wirklich auf mich? Debbie? Daneben stand Debbie. Woher kannte sie den fetten Bademeister? Und warum hatte ich nicht vorher geschaut, ob sie da war? Dann hätte ich mein T-Shirt doch niemals ausgezogen. S. 135