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Kuijer, Guus:
Das Buch von allen Dingen
Aus dem Niederländischen von Sylke Hachmeister
Hamburg: Oetinger 2006
96 S., € 9,90

Kuijer, Guus: Das Buch von allen Dingen

„Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch“, amen

von Patric Mell (2006)

Thomas ist neun Jahre alt und sehr unglücklich. Er lebt mit seinen Eltern und seiner sieben Jahre älteren Schwester Margot im Amsterdam der Nachkriegszeit. Der Vater, im konservativen, niederländisch-reformatorischen Glauben verhaftet, hält zu Hause die Zügel straff in der Hand. Thomas drohen oftmals schon Prügel, nur weil er ein Gebet falsch aufgesagt hat. Doch noch schlimmer ist es für ihn, dass die Schläge des Vaters auch die Mutter treffen, wenn diese sich schützend vor ihn stellt. Für die Mutter ist Thomas „der liebste Junge auf der ganzen Welt“, und trotzdem kann sie ihn und sich selbst vor der Gewalt des Vaters nicht retten. Wie aber kann man ihn ändern – ‚den Mann’ – wie Thomas seinen Vater nennt, wenn er wieder einmal zuschlägt, nachdem er vorher zu Gott gebetet hat. Auf seine Schwester, die dumm ist „wie eine Kartoffel“ kann er wohl nicht zählen – oder doch? In brenzligen Situationen gibt sie meist nur ein merkwürdiges „Tideldum, tideldum, tideldum dum dum“ von sich. All dies und vieles mehr, schreibt Thomas in sein „Buch von allen Dingen“.

Thomas weiß genau, was er will: Er möchte glücklich werden. Dass er glücklich geworden ist, bestätigt er viele Jahrzehnte später, als er Guus Kuijer, dem niederländischen Autor dieses Werkes, sein „Buch von allen Dingen“ übergibt, damit dieser daraus ein Kinderbuch macht. Kuijer entfaltet das Skript zu einem gesellschaftlich wie religiös tiefgründigen Werk, dem es an Sarkasmus nicht fehlt. Klar und ohne viel Pathos erschließt sich die Situation des Neunjährigen. Glaube, Gewalt in der Familie und die Abhängigkeit der Kinder von der Vernunft ihrer Eltern bilden in ihrem Geflecht die Thematik.

Bezüge zu Erich Kästners „Emil und die Detektive“ sind unübersehbar. Bereits die Prologe beider Werke beginnen mit den gleichen Worten. An „Emil“ erinnert zudem das innige, aber problematische Mutter-Sohn-Verhältnis. Kann Thomas überhaupt der Liebe der Mutter gerecht werden, wenn der Vater, durch ihn gereizt, die Mutter schlägt? Er fühlt sich mitschuldig, aber ist er überhaupt dafür verantwortlich zu machen? Ist es nicht der Vater, dem es an Vernunft mangelt?

Thomas nimmt Dinge wahr, die anderen verborgen bleiben. Er sieht tropische Fische durch die Grachten schwimmen. Eine Horde Frösche macht sich nachts vor der Haustür breit, und Sessel schweben zu Beethovens Klängen. Elisa, die ganz in der Nähe wohnt, versteht Thomas, und sie mag ihn. Elisa ist sechzehn Jahre alt und geht in dieselbe Klasse wie seine Schwester. An ihrer rechten Hand fehlen vier Finger, und sie trägt eine lederne Beinprothese, die beim Gehen „knirscht wie neue Schuhe“. Das aber stört Thomas nicht. Im Gegenteil: Es fällt ihm auf, wie schön Elisa eigentlich ist, denn sein Augenmerk liegt meist auf dem Wesentlichen. Er mag sie sehr. Auch die als Hexe verschriene Nachbarin, Frau Van Amersfoort, wird von vielen gemieden. Anfangs hat Thomas Bedenken, doch nachdem er ihr einmal geholfen hat, die Einkaufstasche hinaufzutragen, lernt er die couragierte Frau besser kennen. Warum weiß sie so viel über seine Nöte? Ahnt sie etwas, oder kann sie ihm sogar helfen? Sie macht ihn empfänglich für den Zauber der Musik und begeistert ihn für das Lesen von Büchern. Einmal schenkt sie ihm – wie soll es anders sein – „Emil und die Detektive“.

Ach ja, und dann ist da noch Jesus, der Thomas in schlimmen Situationen erscheint. Aber – und das ist merkwürdig – dieser „Herr Jesus“, wie er ihn nennt, gleicht so gar nicht dem Gottesbild des Vaters. Es ist ein Jesus, der die Sprache des Jungen spricht. Er stärkt ihn, hört ihm zu und versteht es, dass Thomas verzweifelt und mutlos sagt, Gott sei tot, denn er sei aus ihm herausgeprügelt worden. Außerdem steht er nicht ständig über den Dingen und hat nicht auf alles sofort eine Antwort. Weiß er mal was nicht, sagt er einfach: „Mein Name ist Hase“. Kuijer stellt dem zornigen und strafenden Gott des Vaters, den liebenden Gott, so, wie Thomas ihn durch ‚seinen’ Jesus erfährt, gegenüber. Durch die literarische Form wird der Unterschied der beiden Gottesbilder noch sichtbarer: Kuijer lässt die Dialoge zwischen Thomas und Jesus, die durchaus als moderne Gebete verstanden werden können, mitten in die konservativen Gebete des Vaters hineingleiten.

Ein wirkliches Happy-End hat die Erzählung – Gott sei Dank – nicht, denn auch Jesus muss die Frage, ob er dem Vater helfen könne, verneinen. Thomas empfindet keinen Hass, stattdessen tut ihm ‚Papa’ leid. Letztlich kann er den Vater weder ändern, noch ihm vorerst entfliehen. Aber vielleicht ist die Tatsache, dass er alles in „Das Buch von allen Dingen“ geschrieben hat, nicht ganz unschuldig daran, dass Thomas doch noch glücklich wird.

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