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Titelbild
Ingendaay, Paul:
Warum du mich verlassen hast
München: SchirmerGraf 2006
505 S., € 24,80

Ingendaay, Paul: Warum du mich verlassen hast

Die Leiden des jungen Crusoe 

von Stefanie Coslar und Stephan Leupold (2006)

Wie rezensiert man einen von einem Literaturkritiker geschriebenen Roman, welcher von der ersten bis zur letzten Seite eine Liebeserklärung an die Literatur darstellt? Nun, versuchen wir es klassisch und beginnen mit einer Inhaltsangabe.
Paul Ingendaays Debüt „Warum du mich verlassen hast“ bietet eigentlich alles, was einen typischen Internatsroman ausmacht. Da wäre zunächst das Collegium Aureum. Dieses erzkatholische Internat am Niederrhein tritt mit strengen Regeln und einer verlogenen, um mit Nietzsche zu sprechen, lebensfeindlichen Sklavenmoral, die Bedürfnisse der Zöglinge mit Füßen. Und es gibt einen jugendlichen Rebellen, der, zunächst mit harmlosen Übertretungen, später jedoch in aller Öffentlichkeit, die Wertvorstellungen des Collegiums in Frage stellt. Marko, der Protagonist und Ich-Erzähler, hat nicht nur mit den Internatsregeln zu kämpfen, sondern muss auch die Scheidung seiner Eltern verarbeiten. Zusätzlich machen dem Fünfzehnjährigen noch ganz profane Teenagersorgen zu schaffen, denn gerade an einem katholischen Jungeninternat kann die „Mädchenfrage“ leicht zur Gretchenfrage werden.
Ingendaay gibt die Perspektive eines intelligenten und sensiblen Fünfzehnjährigen, der zunehmend „in einer grauen Wolke des Nihilismus“ versinkt, glaubwürdig wieder. Auf sprachlich hohem Niveau lässt er Marko von seinem letztem Schuljahr auf dem Collegium Aureum erzählen. Der Autor bietet Rückblicke auf Markos Kindheit, führt jedoch Erzählstränge, die über dieses Schuljahr hinausreichen, nicht zu Ende, so dass manches Geheimnis ungelüftet bleibt. Zusätzlich stellen sein sprechender, freier Schreibstil und der zum Teil rasante Wechsel zwischen verschiedenen Zeitebenen hohe Anforderungen an die Leserschaft, so dass der Roman nur bedingt als Jugendbuch gelten kann. „Warum du mich verlassen hast“ ist nicht nur ein Adoleszenzroman, in dem Marko vom Kind zum Erwachsenen reift, sondern auch ein Bildungsroman: Denn die Antworten auf die Fragen des Lebens hofft Marko in der Literatur zu finden, und so widmet sich Ingendaay auch in weiten Teilen der Leselust seines Protagonisten, die dieser mit seinem Religionslehrer Bruder Gregor teilt.
„Und was liest Marko in diesen Tagen, sofern er liest, und nichts Verbotenes tut?“ Er liest unter anderem Dürrenmatt, Hebbels Tagebücher, Senecas Dialoge und tauscht sich mit Bruder Gregor über die gelesenen Bücher, über religiöse und philosophische Fragen aus. Markos Lieblingswerk „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe durchzieht wie ein roter Faden den gesamten Roman: Marko betrachtet sich als Schiffbrüchigen auf einer „Insel der Verzweiflung“. Wenn das Essen in der „Schädelstätte“ des Internats wieder mal grottenschlecht und schlichtweg ungenießbar ist, möchte er am liebsten, ganz wie der alte Robinson, eine Ziege schießen, um ihr Fleisch über dem Feuer zu rösten. Auch das Vergnügen des Rauchens ist ihm untersagt. Frustriert beschließt Marko einmal, seine Freunde fortan Montag, Dienstag und Mittwoch zu nennen.
Ingendaay zelebriert die Liebe zur Literatur, wie kaum ein anderer Autor. Es gelingt ihm meisterlich, literarische Zitate, Anlehnungen und Verweise in den Handlungsablauf einzuflechten. Die Bezüge zu „Robinson Crusoe“ sind hier nur die Spitze des Eisbergs. Der Leser spürt förmlich die Lust an Literatur und Sprache, wenn Marko mal naiv, mal ironisch, mal melancholisch, mal frech drauflos plaudert und virtuos mit literarischen, religiösen und philosophischen Anspielungen um sich wirft. Vereinzelt eingestreute, der Jugend- und Umgangssprache der 70er Jahre entlehnte Phrasen sorgen für Auflockerung, wirken aber an manchen Stellen auch reichlich deplatziert.
„Warum du mich verlassen hast“ wird sicherlich nicht jedermanns Geschmack treffen, schon allein weil die Handlung sehr spät richtig in Fahrt kommt und erst am Ende der rund 500 Seiten mit einer geheimnisvollen und krimihaften Wendung der Ereignisse so etwas wie einen Höhepunkt aufweist. Die Stärken des Romans sind jedoch gerade die im Plauderton dahinplätschernden Situationsbeschreibungen, die leisen Zwischentöne und die vielfach erörterten kleinen und großen Fragen des Lebens. Ingendaay brilliert hier durch leichtfüßig-originelle Formulierungen und subtilen Humor, so dass die Lektüre des Romans über weite Strecken zum kurzweiligen Lesevergnügen wird und einen bereitwillig über einige Längen hinwegsehen lässt.
Paul Ingendaay war in seiner Jugend selbst Schüler eines katholischen Internats. Was liegt da näher, als biographische Einflüsse in diesem Roman zu vermuten? Aber nicht doch, weit gefehlt! Schließlich ist dieses „Buch ein Werk der Einbildungskraft“, und jegliche Ähnlichkeit zur Realität wäre natürlich „rein zufällig“, wie der Autor im Nachwort betont.

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