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Chen Jianghong:
Der Tigerprinz
Aus dem Französischen von Erika und Karl A. Klewer
Frankfurt am Main: Moritz Verlag 2005
40 S., € 16,80

Jianghong, Chen (Text und Illustration): Der Tigerprinz

Der Prinz und die Tigerin

von Eva Neuhaus und Susanne Wieners (2006)

Eigentlich sollte man meinen, dass kleine Königskinder wohlbehütet in einem Palast aufwachsen und nicht bei einer wilden Tigerin im tiefsten Dschungel. Aber genau dies ereignet sich, einer alten Legende aus Zeiten der Shang-Dynastie zufolge, im mittelalterlichen China. Der Illustrator und Autor Chen Jianghong greift diese mythische Geschichte, inspiriert durch ein altes Bronzegefäß, auf. In seinem Bilderbuch „Der Tigerprinz“ haben Jäger die Kinder einer Tigerin getötet. Dies weckt einen unermesslichen Hass auf alles Menschliche in dem wilden Tier: Sie verwüstet Dörfer, fällt die Bewohner an und erscheint – auch in den Zeichnungen – immer gefährlicher. Einem Rat der alten und weisen Seherin Lao Lao folgend, schickt der König statt der Soldaten seinen eigenen Sohn in das Tigerreich, dem Schrecken ein Ende zu machen und sie zu besänftigen.

Was nun geschieht, lässt sich mit Worten nur schwer wiedergeben, denn auch Chen Jianghong lässt die in die Zeichnungen eingebetteten, und in einem märchenhaften Ton gehaltenen Textpassagen zurücktreten. Die Bilder sprechen für sich. Bereits am Anfang des Buches taucht man in das Reich der Tigerin ein. Auf einer Doppelseite tut sich dem Betrachter – mit Aquarellfarben auf Reispapier gebannt – der Urwald auf: Die grau-grünliche Färbung der verschlungenen Baumwurzeln und die dunklen, verschwommenen Stellen im Unterholz vermitteln ein Gefühl der Undurchdringlichkeit und der Tiefe. Die auf einem steilen Felsen Ausschau haltende Tigerin scheint die alleinige Herrscherin in dieser fremden, gefährlichen Welt.

Die Dreidimensionalität der Darstellung wirkt vor allem bei den Bildern eindrucksvoll, in denen der Prinz wie ein kleiner Farbfleck durch das dunkle, dichte Unterholz wandert. Die Illustrationen wechseln zwischen großflächigen, doppelseitigen Panoramabildern und geteilten, schnell aufeinanderfolgenden Szenendarstellungen, was dem Geschehen an einigen Stellen eine fast filmische Dynamik verleiht und – genauso wie die Personenzeichnungen – den berühmten asiatischen Manga-Comics entliehen scheint. Die kleinen Bilder vor nüchternem, transparentem Hintergrund verdeutlichen die Gefühle der Tigerin und des kleinen Prinzen.

Als die Tigerin das Kind bemerkt, will sie sich mit ihrer ganzen Kraft und Wildheit auf den schutzlosen Königssohn stürzen. Doch plötzlich erinnert sie sich – dargestellt als Gedankenbild – an ihre Jungen, und der Mutterinstinkt überwindet alle Rachegelüste: „Sie nimmt Wen vorsichtig ins Maul, genauso, wie sie es früher mit ihren eigenen Kindern getan hat.“ Das gefährliche grün-gelbe Funkeln in ihren Augen verblasst, die Bedrohlichkeit ihrer scharfen Zähne verschwindet, und ihr raubtierhafter Körper wird plötzlich so geschmeidig wie der einer Katze. Nun wirkt der Urwald nicht mehr verschlungen und undurchdringlich, sondern zeigt sich auch dem Prinzen Wen in seiner vielfältigen Schönheit. Das türkisfarbene Wasserloch und die exotischen, leuchtend roten Pflanzen erinnern in ihrer Farbgebung an das andere, ferne Zuhause des kleinen Prinzen.

Irgendwann muss, wie so häufig in Sagen und Märchen, auch in dieser Geschichte die Zeit des Jungen in der Fremde enden. Eines Tages übermannt das Königspaar die Sehnsucht nach Wen, und sie schicken Soldaten aus, um ihren Sohn zu suchen. Plötzlich wirkt der Hintergrund wieder so bedrohlich, wie schon am Anfang. Vor dem nun in ein feuriges Orange getauchten Urwald stellt sich Wen – mittlerweile zum Jüngling gereift – beschützend zwischen Tigerin und Soldaten. Auch als er mit seinen Eltern an den Hof zurückkehrt, hält er die Verbindung zu seiner ‚Tigermutter’ aufrecht – bringt ihr Jahre später sogar den eigenen Sohn und bittet sie: „Behalte ihn bei dir, bis er alles gelernt hat, was ein Tiger wissen muss. Dann wird aus ihm, dessen bin ich sicher, ein guter König.“

Der in Paris lebende Chen Jianghong schafft mit dem „Tigerprinz“ ein kleines Kunstwerk, dessen Besonderheit nicht zuletzt in der Verbindung von asiatisch anmutender Malerei und der Wiedergabe einer alten Legende im modernen Medium des Bilderbuchs liegt. Die mit traditioneller Technik von Tusche auf Reispapier gemalten Landschaftsbilder wirken für das europäische Auge oft fremdartig und mythisch, gleichzeitig – oder gerade deswegen – aber auch faszinierend und fesselnd, wie die ganze Geschichte.

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