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Titelbild
Nilsson, Per:
Anarkai
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
Hamburg: Carlsen 2003
(Erstausgabe 1998)
256 S., € 7,50

Nilsson, Per: Anarkai

Tu, was du willst!

von Julia Martensmeier (1999)

„Irgendwie hat das Leben zu wenig von allem: Spannung, Abenteuer, Liebe, Sex, Lachen und zufälliges Aufeinandertreffen“, findet der 17-jährige Johan. Doch in diesem Sommer verändert sich einiges. Aus der zufälligen Begegnung mit dem Straßenkünstler Anarkai und Gro, die einen Ferienjob auf dem Campingplatz hat, entwickelt sich schnell eine Freundschaft, die für Johan etwas ganz Besonderes ist. Sein Leben in dem kleinen schwedischen Touristenort verlief bislang eher eintönig und einsam; Johan ist ein Außenseiter.

Aufgrund seiner Körperbehinderung wird er von seiner Mutter Lena immer noch stark behütet. Jeden Abend ruft sie ihn während ihrer Nachtwache an und will genau wissen, was er macht und wie es ihm geht. Ohne dass es zwischen ihnen thematisiert würde, steht Johans Behinderung im Mittelpunkt ihrer Beziehung, bindet beide aneinander. Die Freundschaft zu Anarkai, der Johan mit seinem Wahlspruch „Tu, was du willst! Du bist frei!“ beeindruckt, und zu Gro, in die Johan sich verliebt, reißt ihn aus diesen engen Strukturen. Er nimmt teil am Leben, ist nicht mehr passiver Zuschauer.

Es sind die alltäglichen Dinge, die Johan besonders genießt: sich unterhalten, zusammen lachen, im Cafe sitzen. Sie stehen im starken Kontrast zu seinen einsamen Stunden vor dem Computer. Viel zu schnell vergeht die gemeinsame Zeit und endet für Johan zunächst enttäuschend: Er findet heraus, dass Anarkai im wahren Leben Andreas heißt und der brave, angepasste Sohn reicher Eltern ist, der nur den Sommer lang den Anarchisten gespielt hat. Für Johan ist das ein Schock, er fühlt sich betrogen und verraten. Außerdem meldet sich Gro nicht bei ihm und Johan glaubt, dass sie nichts mehr von ihm wissen will, bis er zufällig entdeckt, dass auch Lena ihn belogen und Gros Briefe unterschlagen hat. Für Johan ist das der Anlass, sich von seiner Mutter zu lösen.

„Anarkai“ ist eine Ich-Erzählung, in der die Ereignisse des Sommers retrospektiv mit den Gedanken und Erlebnissen Johans, während er sich auf dem Weg zu Gro befindet, verknüpft werden. Diese Montage sorgt für Spannung, aber auch für anfängliche Verwirrung. Der Leser erfährt nie mehr, als aus der beschriebenen Situation ersichtlich wird. Überschriften wie „Die Räder rotieren, die Räder rollen“ muten merkwürdig und rätselhaft an. Erst zum Schluss wird aufgelöst, wohin Johans Reise geht, und es wird deutlich, dass diese Reise den Ablöseprozess von seiner Mutter symbolisiert.

Per Nilsson, Träger des Deutschen Jugendbuchpreises 1997, vermittelt eine sommerlich leichte Atmosphäre und spielt zugleich ironisch mit dem Sommerurlaub-Sommerliebe-Klischee. Das Buch – von Christel Hildebrandt ins Deutsche übersetzt – besticht sprachlich durch die klare, treffende, manchmal auch derbe Wortwahl sowie durch Wortwitz und wird schon allein dadurch zum Lesevergnügen. Seine herausragende Stärke liegt darin, dass der Protagonist nicht auf seine Behinderung reduziert wird. Im Gegenteil: Der Leser muss zunächst eigene Schlüsse ziehen, warum sich Johan nicht für einen „normalen jungen Mann“ hält und erfährt erst sehr spät, dass dieser im Rollstuhl sitzt. Die eher beiläufigen Vorverweise erschließen sich erst, wenn man die Lösung kennt – und die ist so verblüffend, dass man meint, etwas überlesen zu haben.

Nilsson schildert Johans Suche nach der eigenen Identität eindringlich und nachvollziehbar. Durch Anarkais Entlarvung wird ihm bewusst, dass auch dieser kein wirklich freies Leben führt, und die Vision des völlig selbst bestimmten Lebens verblasst. Trotzdem hat die Begegnung in Johan etwas bewirkt, hat das Rad seines Lebens ins Rollen gebracht. Ihm wird klar, dass ihn seine Behinderung weniger einschränkt, als er es bisher empfunden hat. Es sind vor allem die Ängste seiner Mutter, die ihn fesseln. Sie hat Johan zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht und nimmt ihm mit ihrer falsch verstandenen Liebe und Fürsorge die Chance auf ein weitgehend selbstständiges Leben. Doch Johan weiß jetzt, was er will, und macht sich auf den Weg, sein Ziel zu erreichen. Dabei entdeckt er, dass ihm doch mehr Möglichkeiten offen stehen, als er bis dahin gedacht hatte: „Tu, was du willst!“

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