zum Inhalt springen

Muecke, Matthias Friedrich: Niemandsland

Eine Jugend in Ost-Berlin ohne Beschönigung:
Matthias Friedrich Mueckes Debüt „Niemandsland“

Von Thomas Fischer (2020)

Wie war das eigentlich, in Ost-Berlin direkt an der am schärfsten gesicherten Grenze der Welt aufzuwachsen? Der bislang nicht als KJL-Autor in Erscheinung getretene Berliner Maler und Grafiker Matthias Friedrich Muecke (Jahrgang 1965) schickt sich an, in einem vermutlich autobiographisch inspirierten Buch diese Frage zu beantworten.

Der Ich-Erzähler M. Findig, der nach einem missglückten Sprung vom Zehnmeterturm nur noch „Nacktarsch“ genannt wird, berichtet in einer Folge kurzer Episoden von seinem Alltag im Pankow des Kalten Krieges. Er und seine Freunde – Fischkopp, Torti und wie sie alle heißen – leiden unter dem strengen Regiment in der Polytechnischen Schule, mischen in „freimüssigen“ Betriebspraktika heruntergekommene Fabriken auf, legen sich mit den Grenztruppen an, fahren Motorrad in den Schulgängen, anstatt diese zu schrubben – und erleben natürlich auch ihre erste große Liebe.

Einen besonderen Platz in M.s Leben nimmt sein bester Freund Frank ein, den er als Ersatz für seinen bei der Geburt gestorbenen Zwillingsbruder betrachtet. Der Draht der Kindertelefone, die ihre beiden Schlafzimmer verbinden, kann als ein etwas angestrengtes Symbol für die Nabelschnur gedeutet werden. Die gemeinsamen Ferien am Scharmützelsee in der Jugendherberge „Druschba“ sind ein Lichtblick im ansonsten von brutaler häuslicher Gewalt, schulischem Mobbing und sexuellem Missbrauch durch einen Westonkel geprägten Alltag. Schließlich kommt es zur Katastrophe, als Frank bei einem illegalen Grenzübertritt erschossen wird und M. somit zum zweiten Mal seinen Zwillingsbruder verliert…

Der Band lebt von der gleichberechtigten Wirkung von Text und Zeichnungen, die zwischen Karikatur und Comic changieren, und die Aussage des Textes durch ihre gleichzeitig dokumentarisch-genaue wie bizarre Anmutung verstärken. Allein die unsägliche „Dreiecksbadehose“, für deren Tragen man in heutigen Freibädern vermutlich gesteinigt würde und die der Ich-Erzähler im Laufe der Handlung folgenreich verliert, ist ein überzeugendes Sinnbild für die Enge und Spießigkeit der sich als Speerspitze des Fortschritts aufspielenden DDR. Kritisch anzumerken ist aber, dass Mueckes Erzähltalent nicht ganz mit seiner graphischen Begabung Schritt hält; die rhapsodische, fragmentarische Aneinanderreihung von Anekdoten und Kalauern („El Friede muss bewaffnet sein!“) wirkt hier weniger als Kunstgriff denn als Verlegenheitslösung.

Viele Gegenstände der Alltagskultur müssen heute nicht nur dem „Wessi“ in einem separaten Glossar erklärt werden: Vom „Pierre Brice des Ostens“ Gojko Mitic über die „Zahlbox des Vertrauens“ (einen rudimentären Fahrkartenautomaten) bis zum „Tränenpalast“, in dem sich die Ostverwandtschaft von ihrem Westbesuch trennen musste. Dies zeigt, wie fern uns jener seltsame Mauerstaat namens DDR heute (zum Glück) gerückt ist. Umso wichtiger ist es aber, die Erinnerung daran lebendig zu halten, denn ohne in eine oberflächliche Gleichsetzung zu verfallen, muss ebenso wie bei der Beschäftigung mit dem Dritten Reich auch für die linke Diktatur gelten: Nie wieder!

Dieser Band ist ein Spätling unter der besonders in den Neunzigern florierenden Welle der „Ostalgie“-Literatur, allen voran die Bestseller „Zonenkinder“ von Jana Hensel und Thomas Brussigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Auch der erfolgreiche Film „Goodbye Lenin“ wäre hier zu nennen. Die Beschäftigung der Kinder- und Jugendliteratur mit Themen der jüngeren deutschen Vergangenheit wird sich jedoch sicher noch lange fortsetzen und notwendig sein.

 

Leseprobe:

Ein Johlen geht durch die Masse unterhalb des Sprungturmes. Und schon fliegt der Nächste durch die Sommerluft und lässt das Chlorwasser bis an die Siebenmeter-marke spritzen.

Ich gebe Frank ein Zeichen und will gerade die Leiter wieder rückwärts runter, als „Blondlocke“, der braungegerbte Bademeister, grinsend die Kette zum Abgang verschließt.

„So, jetzt macht mal’n bisschen Ballett, ihr Hühnchen!“

Frank läuft auf Blondlocke zu.

„Wir wollten nur ma runterkieken.“

Blondlockes Locken wackeln lustig im Wind

„Ihr könnt gleich wieda ruffkieken, wenna unten seid.“

Frank nimmt ohne Vorwarnung Anlauf und springt in die Tiefe.

Seine Unerschrockenheit macht mir noch mehr Angst. Aber ich muss runter. Und springe. Ich habe in einem Zustand der Schwerelosigkeit mein noch sehr kurzes Leben deutlich vor Augen. Ein lautloses Durch-die sozialistische-Welt-Gleiten.

Als ich nach einem nicht enden wollenden Tauchgang Luft schnappend wieder die Oberwelt erreiche, begrüße ich die Fan-Gemeinde mit einem Hustenanfall, kombiniert mit wildem Hundepaddeln.

Ich komme langsam wieder zu mir. An der Beckenleiter bemerke ich den Verlust meiner Dreiecksbadehose.

(S. 71 f.)