„Wo ich auch bin, ich inhaliere gelben Rauch, nichts geht über fett Rumhäng‘…“ oder: Berliner Kindheit um 2020
Von Thomas Fischer (2020)
Der Stand-Up-Comedian Felix Lobrecht, der selbst unter prekären Bedingungen in Berlin-Neukölln aufwuchs, legt mit Sonne und Beton seinen ersten Roman vor.
Vier Jungs aus einer Berliner Problemschule erleben einen außergewöhnlichen Sommer im proletarischen Berlin. Sie chillen, kiffen, prügeln sich mit den anderen „Kanaken“, haben ihre ersten sexuellen Abenteuer – und gelegentlich gehen sie sogar mal zur Schule. Leider tun sie dies aber nicht nur zum Lernen: Der Berliner Senat hat ausnahmsweise Geld in die Hand genommen, um dem städtischen Nachwuchs eine ordentliche IT-Ausbildung angedeihen zu lassen. Doch die vielen nagelneuen Computer werden nie ihrem Zweck dienen, denn Lukas, Gino, Julius und Sanchez brechen in ihre Penne ein, um diese Geräte zu verticken.
Dass dies gar nicht so einfach ist, müssen die vier halbwüchsigen Gangster bei ihrer Odyssee durch die türkisch-arabische Hehlerwelt erfahren. In ständiger Angst vor den sogenannten Bullen und – mehr noch – vor den gewalttätigen Vätern werden sie schließlich selbst übel abgezockt…
Bemerkenswert an diesem Roman ist nicht so sehr die dünne und vorhersehbare Handlung, sondern die beeindruckende Milieuschilderung. Wer in der „alten Bundesrepublik“ in stockbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, kann und will einfach nicht glauben, dass es mitten in der deutschen Hauptstadt Bezirke gibt, in die sich selbst die Polizei nicht hineintraut, in denen Jugendliche den Schulbesuch als fakultativ auffassen und in denen in aller Öffentlichkeit Substanzen jeglicher Art straffrei gehandelt und konsumiert werden können. Die arbeitslosen und alkoholkranken Eltern sind ebenso machtlos wie die Witzfiguren von Lehrer*innen.
Dass die Lektüre trotz dieser scheinbaren Hoffnungslosigkeit nicht deprimierend, sondern aufrüttelnd und bisweilen sogar schreiend komisch ist, liegt an der gelungenen Wiedergabe der Berliner Kiezsprache, angereichert mit orientalischen Interjektionen und einer Menge „gepflegter Sauereien“, wie Otto Waalkes sagen würde. Und indem der völlig überforderte Ich-Erzähler Lukas, einer der wenigen Deutschen in seiner Schule, im Präsens die bescheuerten Aktionen seiner Gang schildert, erweist er sich als Musterbeispiel eines unzuverlässigen Erzählers.
Dieser vermutlich autobiographisch inspirierte Roman, von dem der Autor hintersinnig sagt: „Ich wünschte, ich hätte mir mehr ausdenken müssen“, ergänzt die aufsehenerregenden Berichte Arabboy von Güner Yasemin Balci (2008), das im selben Berliner Stadtteil spielt, und Ingrid Müller-Münchs Zwei Welten (2009) aus dem scheinbar so spießigen Bonn-Bad Godesberg, dessen „Neuköllnifizierung“ jedoch seit dem Verlust der Hauptstadtfunktion Bonns unaufhaltsam voranschreitet. Deutliche Parallelen bestehen auch zu Gregor Tessnows spektakulärem Roman Knallhart, dessen sehr ähnliche Handlung ebenfalls in Neukölln angesiedelt ist und von Detlev Buck für das Kino adaptiert wurde.
Was die Zielgruppe des Textes betrifft: Junge Leute aus dem geschilderten Milieu werden es nicht lesen, und bildungsaffinere Schichten dürften über Sprache und Inhalt des mit seiner Leserschaft nicht gerade zimperlich umgehenden Werkes die Nase rümpfen. Der beeindruckende Erfolg des Bandes beim Lesepublikum (nicht jedoch bei der bisherigen Kritik) dürfte daher zum Teil auf der steilen Karriere des Textes als Schullektüre beruhen. Ob da bei den wohlmeinenden Pädagog*innen ein wenig Selbstironie im Spiel ist, da sie hier wahrlich auch ihr Fett wegkriegen?
Lobrecht, Felix
Sonne und Beton
Berlin: Ullstein Verlag 2017
Leseprobe:
Das Klappern ist mit den ganzen Computern und Bildschirmen drin noch viel lauter als ohne. Ganz Neukölln kann uns gerade hören, glaube ich. Bisher hatten wir Glück, außer zwei Alkis auf einer Bank ist uns noch niemand begegnet, aber das Schlimmste kommt erst noch. Vorne müssen wir über die große Kreuzung am Zwickauer Damm. Direkt am U-Bahnhof, an einer Spielo vorbei, in der immer irgendwelche Idioten rumhängen. Paar hundert Meter weiter die Straße runter ist auch noch eine Polizeistation…
„Ich schwöre, Erste, was ich mir hole mit den Geld, is ‘ne miese Kette einfach“, sagt Julius. „Minimum 150 Gramm. Dann noch Paar neue Shox und Klamotten. Den Rest spar ich für Silvester: Vogelschreck und so. Und ‘ne neue Angel. Auf jeden Fall ‘ne neue Angel, ja…“
„‘ne Angel, Loco?“, fragt Sanchez. „Wat willste denn mit ‘ner Angel?“
„Angeln, Dicker!“, antwortet Julius. (S. 119f)