zum Inhalt springen

„Jehova, desto doofer“? –
Ein Coming-of-Age-Roman, der sich um ein differenzierteres Bild der Zeugen Jehovas bemüht

von Thomas Fischer (2020)

Wir kennen zwar alle die älteren Damen und Herren, die bei Wind und Wetter an Bahnhöfen und in Einkaufspassagen stehen und Broschüren wie „Der Wachtturm“ oder „Das Ende der Welt ist nahe“ anbieten. Und vielleicht weiß man auch noch, dass diese Gemeinschaft keine Geburtstage und Weihnachtsfeste feiert und Bluttransfusionen ebenso ablehnt wie alternative Lebensweisen, etwa Homosexualität.

Doch wie sieht es im Inneren dieser endzeitlichen Sekte aus? Wie gestaltet sich der streng reglementierte Alltag besonders der jungen Mitglieder? Die Autorin Stefanie de Velasco, die bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen ist und mit 15 Jahren diesem Glauben den Rücken gekehrt hat, nimmt uns in ihrem Roman Kein Teil der Welt mit ins „Reich der Wahrheit“, in dem ihre Protagonistin Esther den täglichen Spagat zwischen Schulalltag, Missionierungsdienst und Bibelstunden schaffen muss.

Die Ich-Erzählerin zieht mit ihrer Familie kurz nach der Wende aus dem Rheinland in ein Kaff in den neuen Bundesländern, um die dort bislang illegal wirkenden Glaubensschwestern und -brüder zu unterstützen. Mittels einer anspruchsvollen Erzähltechnik, die mit zahlreichen Rückblenden und gezielt eingesetzten Tempuswechseln arbeitet, erfahren wir nach und nach von einer Tragödie, die sich durch das strikte Regiment der „treuen und verständigen Sklaven“ (so archaisch nennt sich das Leitungsgremium der Sekte) entwickelt hat: Esthers Freundin Sulamith trifft sich heimlich mit einem „Weltjungen“, obwohl doch jegliche unkontrollierten Kontakte zu Nichtmitgliedern verboten sind, ebenso wie sexuelle Beziehungen vor der Ehe – schon ein Küsschen wird als „Hurerei“ verurteilt. Der schwierige Ablösungsprozess Sulamiths gipfelt in einer Katastrophe, als sie nach einer verbotenen Sauf- und Kifftour mit „Weltkindern“ vom Dach eines Hauses stürzt. Der letztlich ungeklärte Tod ihrer wichtigsten Bezugsperson lässt auch Esther, mit Hilfe von Schulfreundinnen und dem Jugendamt, den Ausstieg aus ihrem beengten Lebensumfeld finden.

Bemerkenswert ist, dass die Verfasserin der wohlfeilen Versuchung der Schwarzweißmalerei widersteht. Der Roman gerät so weder zum Werbetext für sektiererische Praktiken noch zum religionsfeindlichen Pamphlet. Denn es wird nicht nur die Abkehr Esthers und Sulamiths von den „Ernsten Bibelforschern“ (so ein weiterer Name der Zeugen Jehovas) geschildert, sondern auch die Annäherung einer jungen Frau aus asozialen Verhältnissen an die Gemeinschaft, die ihr Halt gibt und sie vor ihrem gewalttätigen Vater schützt.

Auch die vielen Nebenfiguren der personenreichen Erzählung werden humorvoll und differenziert geschildert, so etwa Sulamiths verrückte Mutter mit ihren fettigen Eintöpfen und der Marotte, alle Türen der Wohnung auszuhängen, Esthers straffälliger Onkel, der sich in einem Fabrikkeller versteckt und dessen gemeinsamer Fluchtversuch mit seiner Nichte spektakulär misslingt, oder die etwas beschränkten Jungen der Gemeinde, die jedes Mal beim Ansprechen eines Mädchens knallrot werden und stottern – hierin unterscheiden sich die jungen Zeugen Jehovas offenbar nicht von Pubertierenden aller Zeiten und Länder…

Etwas isoliert wirkt hingegen eine surrealistisch angehauchte Rahmenhandlung mit den Überlebenden einer nicht näher bezeichneten Katastrophe, die in einer alptraumhaften, salzverseuchten Welt vegetieren und aus deren Erinnerungen die ansonsten ganz realistisch dargestellte Handlung bestehen soll. Möglicherweise ist dies als Parodie auf die unerträglich kitschigen Paradiesdarstellungen in der Zeitschrift „Der Wachtturm“ zu lesen, in denen Menschen aller Hautfarben einträchtig in einem wohlgepflegten Garten zusammenleben und zahmen Löwen die Mähne kraulen. Ohne dieses ein wenig bemühte Fantasy-Element hätte der Roman aber nichts von seiner Eindringlichkeit verloren.

Die Autorin legt zwar Wert auf die Feststellung, dass ihr Werk rein fiktional sei, doch was Alter und Herkunft betrifft, bestehen unbestreitbare Parallelen zwischen ihr und der frechen, liebenswerten Esther. Und dass beide in der Nähe von Bonn aufgewachsen sind, ist aus zahlreichen Toponymen zweifelsfrei zu erschließen, obwohl der Name der Stadt niemals genannt wird.

Von Stefanie de Velasco, die schon mit ihrem erfolgreichen Erstling Tigermilch einen ausdrucksstarken Roman über das Coming of Age zweier Mädchen vorgelegt hat, ist in Zukunft noch viel zu erwarten.

Leseprobe:

[Ein Konflikt zwischen Esther und Sulamiths Mutter Lidia:]

„Du weißt gar nicht, wie gut du es hast“, sagt sie, „du trittst dein Glück mit Füßen.“

„Was für ein Glück, bitte?“

„Die Wahrheit zu kennen, von Geburt an. Nie zu den Unglücklichen da draußen gehört zu haben. Jehova deinen Freund nennen zu dürfen. Wie kannst du das alles so wenig wertschätzen?“

Ihr Gesicht ist aufgedunsen, ihre kleinen Augen gehen darin unter wie zwei dreckige Pfützen, ihr Mund ist leicht geöffnet. Sie muss einmal den gleichen Schmollmund gehabt haben wie Sulamith, ansonsten gibt es keine Ähnlichkeit zwischen den beiden. Mir fiel schon früh auf, dass die Brüder und Schwestern, die am meisten vom Glück der Wahrheit sprachen, oft die waren, deren Leben besonders unglücklich verlaufen war, als müssten sie sich immer wieder darin bestätigen, dass all das Leid der Preis für den Segen Jehovas war.

Wieder streckt Lidia die Hand nach mir aus.

„Lass mich“, zische ich.

„Du bist wie sie in den letzten Wochen“, sagt Lidia in den Spiegel, „aggressiv und patzig. Satan wirkt schon in dir.“

Ich muss lachen. Es klingt schrill und böse, es klingt tatsächlich nicht nach mir.

„Amen“, sage ich und laufe nach oben.

(S. 350 f.)