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„Ein Schulversager bekommt eine Stimme“ – aber was für eine…

Von Thomas Fischer 2020

Es gibt Jugendbücher über Amokläufe, bei denen der Spagat zwischen pädagogischem Impuls und ästhetischer Qualität gelingt: Aus neuerer Zeit wären hier etwa Morton Rhues „Ich knall euch ab!“ (OA „Give a Boy a Gun“, 2000) oder das weniger bekannte „Erschieß die Apfelsine“ (OA „Sjkut apelsinen“, 2010) des Schweden Mikael Niemi, der im deutschen Sprachraum eher durch den großartigen Coming-of-Age-Roman „Populärmusik aus Vittula“ bekannt geworden ist, zu nennen. Es gibt aber auch Beispiele dieses Genres, bei denen der erhobene Zeigefinger geradezu penetrant zwischen den Seiten hervorschaut; solche eignen sich dann eher für soziologische Untersuchungen als für den literarischen Genuss. Wenn der Verlag dann schon im Impressum seine „Unterrichtserarbeitungen zum kostenlosen Download“ anpreist, ist eine unvoreingenommene Lektüre kaum mehr möglich.

Dies ist der Fall bei dem zum Glück kurzen Roman „Leben. Nehmen.“ des luxemburgischen Autors mit italienischen Wurzeln Tullio Forgiarini. Das Original in letzebuergescher Sprache erschien bereits 2011 und erhielt zwei Jahre später erstaunlicherweise den „Literaturpreis der Europäischen Union“. Ob der neunjährige Verzug bei der deutschen Ausgabe nur den Schwierigkeiten einer Übersetzung aus einer Kleinsprache zuzuschreiben ist oder ob der Arena-Verlag (jetzt „in der Westermann-Gruppe“) berechtigte Zweifel an der literarischen Qualität hegte, sei dahingestellt.

Der Roman handelt von dem 15-jährigen John Guddebuer (ein austauschbarer luxemburgischer Allerweltsname), der aufgrund schwerer Missbrauchserfahrungen und Vernachlässigung zum gewalttätigen Schulversager geworden ist. In einer seiner vielen Stationen durch Erziehungsheime und Jugendpsychiatrien lernt er die erst 13-jährige, aber schon mit allen Wassern gewaschene Shirley kennen. Gemeinsam überfallen sie eine Lehrerin, klauen ihr Auto („Tschick“ lässt aus großer Höhe grüßen) und fahren damit zum Vergnügungspark Phantasialand bei Köln. Dort kommt es zu einem allerdings sehr verklausulierten Showdown: Wir sollen vermuten, dass die Hauptfigur durch die gezielte Provokation der Sicherheitskräfte „suicide by cop“ begehen will.

Die Tour de Force von Johnny und Shirley durch ein engstirniges, von großen Klassenunterschieden geprägtes Luxemburg bis hin zu ihrem Ausbruch nach Deutschland erleben wir in einer elliptischen, von Gedankensprüngen durchzogenen Alltagssprache aus der Sicht des Protagonisten mit. Der Ehrgeiz des Autors besteht darin, den ersten Teil des Romans in zweiter Person berichten zu lassen, wobei lange nicht klar wird, wer die Hauptfigur da ständig mit „Du“ anredet. Erst nach einem Krankenhausaufenthalt wegen Drogenmissbrauchs gewinnt John vorläufig die Gewalt über sich zurück und erzählt aus der Ich-Perspektive. Sein Alter Ego, der einem Actionfilm entlehnte Johnny Chicago, ist ein abgespaltener Teil seiner Persönlichkeit, wobei undeutlich bleibt, ob es sich bei diesem „Du-Erzähler“ wirklich nur um ein Gedankenspiel oder schon um eine manifeste Psychose handelt – der Film Fight Club (1999) und natürlich Dorota Maslowskas Roman Schneeweiß und Russenrot (2004) lassen also ebenfalls schön grüßen. Für eine Krankheit spricht die Tatsache, dass dem Jungen im Laufe der sonst (allzu) realistisch erzählten Handlung allen Ernstes Flügel wachsen – die mehrfache Assoziation mit den Chicken Wings von „Mägges“ findet der Autor offenbar witzig.

Die Lektüre ist selbst für einen Diplom-Bibliothekar ziemlich anstrengend und könnte durchschnittliche jugendliche Leser*innen völlig überfordern, weniger wegen des abundanten Gebrauchs von Flüchen und Schimpfwörtern, die die Einstellung des Bandes in katholische Gemeindebüchereien erfolgreich verhindern werden, als wegen der komplexen, aber wenig überzeugenden Erzähltechnik, in der die beiden Johnnys um die Vorherrschaft kämpfen. Diese formale Preziosität steht in krassem Gegensatz zur überaus brutalen und doch letztlich belanglosen Handlung. Auch gibt es für eher bürgerliche Leser*innen kein noch so geringes Identifikationsangebot – alle Gestalten: Schüler*innen, Eltern, Lehrer*innen etc. sind extrem unsympathisch.

„Warum gilt Luxemburgs Literatur als provinziell?“ fragte letztes Jahr Anna Vollmer im Feuilleton der FAZ. Wirklich bedeutende Namen konnte sie aber auch nicht nennen. Dennoch würde man gerne mehr über die kleine luxemburgische Literatur erfahren. Geben wir also die Hoffnung nicht auf, dass es in diesem Herzstück Europas bessere Autoren als Tullio Forgiarini gibt…

 

Forgiarini, Tullio
Leben. Nehmen. 
Würzburg: Arena  2020
147 S.
Jugendbuch ab 14 Jahre

Leseprobe:
Schlecht ist dir. Verfickter Jägermeister und scheiß Kippen. Das kommt schon mal vor. Du fängst an zu schwitzen, dir wird ganz kalt. Du zündest dir noch eine Kippe an – obwohl dir kotzübel ist… oder gerade deswegen? Du weißt es auch nicht mehr.
Die Mädels machen immer noch irgendeinen Quatsch. Niemand hat mehr Bock drauf, du auf jeden Fall nicht und sie auch nicht und Jacques… sogar Denilson geht es so. Und ich auch nicht.
Sie sagen zwar, dass sie Nutten sind, aber nichts passiert! Die Show ist total lahm, zum Kotzen! Und Shirley erst! Ein kleines, dummes Mädchen ist sie… sonst überhaupt nichts… Da kommt sie auch schon an! Was will die jetzt wieder?
Verpiss dich!, willst du sagen, aber du traust dich nicht, um nicht zu kotzen.
Jetzt sitzt sie schon wieder auf deinem Schoß. Sie nimmt einen Schluck Jägermeister, zieht dir deine Kippe aus dem Mund, ganz zärtlich.
Ich weiß, was jetzt kommt, und du auch… Du presst die Lippen ganz fest zusammen, aber Shirley braucht sie nur mit ihrer Zunge zu berühren und schon gehen sie wieder auf. Du verstehst gar nicht warum, wirklich nicht. Bis tief in den Rachen bohrt sich ihre Zunge und die Spitze der Kippe in deine Schulter. Dieses Mal deine rechte.
Dir geht es beschissen, dir wird warm, du bewegst dich nicht. Du explodierst, aber du bewegst dich nicht.
(S. 66 f.)