Rassmus, Jens: Rosa und Bleistift
Buntstifte auf Abwegen
von Julia Bose (2012)
„Nachdem Irma den ganzen Tag gezeichnet hat, schläft sie einen unruhigen Schlaf.“ Auch ihre Stifte sollten längst in ihrer Stiftekiste Nachtruhe halten, doch Rosa und Bleistift sind noch wach, und das Bild mit dem blauen Auto sieht einfach zu verlockend aus. Ob es wohl fahren kann? Rosa und Bleistift wollen es wissen und wagen eine Fahrt über das Zeichenpapier. Doch jedes Bild ist einmal zu Ende und so stehen die beiden Abenteurer bald vor unbemaltem, weißem Terrain. Anstatt umzukehren, springen sie einfach über die Leere hinweg in ein neues Bild – und das steckt voller Überraschungen ...
Jens Rassmus, der Urheber des Bilderbuchs „Rosa und Bleistift“, ist hingegen kein unbeschriebenes Blatt. Er studierte Illustration in Hamburg und Schottland und gestaltete bereits zahlreiche hochgelobte Kinderbücher. Für seine Illustrationen von „Der Großvater im rostroten Ohrensessel" und sein Vorlesebuch „Der karierte Käfer“ erhielt er jeweils den Österreichischen Kinder- und Jugendliteraturpreis. Auch für den Deutschen Jugendliteraturpreis war er bereits nominiert.
In „Rosa und Bleistift" zeigt sich die enorme gestalterische Vielseitigkeit von Jens Rasmuss. Die Bilder scheinen teilweise wie von Kinderhand gezeichnet: plakativ, eindimensional, krakelig, unsauber ausgemalt, verwischt und mit ganz eigenem Charme. Diesen scheinbar laienhaften Zeichnungen stehen professionell gestaltete Bilder gegenüber. Auch bei der Auswahl der Malwerkzeuge bietet dieses Buch die gesamte Palette: Buntstifte, Filzstifte, Wachsmalstifte, Kugelschreiber und Aquarellfarben bilden ein kunterbuntes Allerlei. Teilweise wirken die Bilder auch collagenartig zusammengesetzt. Elefanten und andere wilde Tiere, bunte Riesenpilze, Blumen und Bäume, Früchte, Regenbogen, Schiffe und viele undefinierbare Dinge und Krakeleien – all dies ist Teil der dargestellten Welt. Die Bilder wechseln dabei zwischen Umrisszeichnungen und kunstvoller Malerei. Die Gestaltung der Doppelseiten ist ebenso vielseitig wie die Bilder selbst: Meist gibt es ein ganzseitiges Bild. Die andere Hälfte der Doppelseite bietet den Großteil des Textes, begleitet durch kleine gerahmte oder auch hintergrundlose Bilder. Einheitlich ist die Seitengestaltung dennoch nicht, denn immer wieder wird dieser Aufbau durchbrochen, etwa durch vereinzelte Darstellungen ohne Rahmen oder doppelseitige Bilder, auf die der zugehörige Text gedruckt ist.
Durch diese bunte Welt fahren die abenteuerlustige Rosa und ihr Freund, der etwas ängstliche und pflichtbewusste Bleistift, mit dem gemalten blauen Auto. Immer auf ihren Fersen ist der strenge Polizist Herr Radiergummi. Keine Hürde ist zu groß, scheinbar unüberbrückbare Klippen werden durch einen einzigen Buntstiftstrich mit neuen Welten verbunden. Doch dann bauen die Stifte einen Unfall und sind auf Hilfe bei der Reparatur angewiesen. Zum Glück ist ein kleines Mädchen in der Nähe, nämlich just jenes Mädchen Irma, das zu Beginn der Geschichte schlafend in seinem Bett liegt. Träumt es die Geschichte? Auf jeden Fall würde das Mädchen den beiden Stiften gerne helfen, wäre da nicht dieses schreckliche Etwas, das in der Zeichenwelt – oder ist es die Traumwelt des Mädchens? – sein Unwesen treibt. Doch Freunde halten zusammen und so wollen sie die gemeinsame Reparatur wagen. Als das schreckliche Etwas dann tatsächlich auftaucht, erscheint die Lage zunächst aussichtslos. Ein hastig gemalter Zaun kann das Monster nicht aufhalten – und dann kriegt es auch noch Herrn Radiergummi in seine Fänge. Aber durch Herrn Radiergummis Fähigkeiten, Rosas Kreativität und den beherzten Einsatz des Mädchens verliert das schreckliche Etwas ganz schnell seinen Schrecken.
Die Geschichte wird spannend und in einfacher, kindgerechter Sprache erzählt. Sie findet auf verschiedenen Erzählebenen statt, die nicht klar gekennzeichnet sind und durchaus verschieden interpretiert werden können. Ob Irma das Geschehen tatsächlich träumt, wieso und wie ihre Stifte plötzlich lebendig werden, zwischen welchen Welten oder Bildern die Stifte hin und her springen und wessen Alptraum das Monster eigentlich ist – all diese Fragen bleiben weitgehend offen. Kindern dürften diese Frage allerdings kaum Verständnisschwierigkeiten bereiten, die kindliche Phantasie findet wohl ihre eigenen Antworten. Viel wörtliche Rede lässt die Geschichte lebendig wirken. Das schreckliche Etwas bereitet aber trotzdem keine Alpträume, denn am Ende ist es gar nicht mehr so schrecklich und lädt eher zum Lachen ein.
Rosa und Bleistift nehmen uns mit auf eine Reise voller Abenteuer, Freundschaft und Mut. Ein vielschichtiges Buch, das viele Fragen offen lässt und dadurch umso mehr Raum für Phantasie gibt.