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Titelbild

Levi Pinfold:
Der Schwarze Hund
Aus dem Englischen von Nicola T. Stuart
Berlin: Jacoby & Stuart 2012
16 ungez. Bll
€ 12,95
Bilderbuch ab 4 Jahren

Pinfold, Levi: Der schwarze Hund

Was Worte ausrichten können

von Theresa Schulte (2012)


Die menschliche Wahrnehmung kann mitunter trügerisch sein. Hat man Angst vor Hunden, dann erscheint selbst ein nur kniehohes Tier als riesiges Ungeheuer, das nicht einfach nur atmet, sondern ATMET: ein Geschöpf, vor dem man sich eigentlich nur noch verstecken möchte.

Ein solcher Hund steht eines Tages vor dem einsam gelegenen Haus der Familie Hoop im Schnee und erweckt den Eindruck, dass er ins Warme hereinkommen möchte. Die Familie gerät in Panik. Herr Hoop benachrichtigt die Polizei: „Vor meinem Haus ist ein schwarzer Hund. Er ist so groß wie ein Tiger!“ Frau Hoop behauptet: „Er ist so groß wie ein Elefant!“ Die beiden älteren Kinder vergleichen ihn mit Tyrannosaurus Rex und dem Muppet-Monster Sweetums – und mit jeder dieser sich gegenseitig überbietenden Zuschreibungen scheint auch der Hund anzuwachsen, bis er schließlich größer ist als alles zuvor Erwähnte. Die Hoops verstecken sich unter einer Decke und verbarrikadieren sich hinter der Couch.

Klein Hoop findet dieses ganze Theater übertrieben. Die jüngste Tochter der Familie beschließt, sich den Hund genauer anzuschauen. Ihre Eltern und Geschwister protestieren: Sie werde mit Sicherheit aufgefressen, sobald sie durch die Tür trete. „Meine Güte, du bist aber WIRKLICH groß. [...] Was hast du denn hier verloren, du Tollpatsch?“, ist Kleins Kommentar zu dem gigantischen Hund, der sie draußen erwartet. Warum ausgerechnet die Jüngste und Kleinste der Hoops keine Angst vor dem Untier hat, wird während der nun beginnenden Toberei von Kind und Hund deutlich: Das Mädchen weiß, wie man solch einen Riesenhund kleinkriegt – mit Worten nämlich, auf dieselbe Art und Weise, wie er überhaupt erst dermaßen groß werden konnte. Am Ende des Spiels und nach drei Verkleinerungs-Spottversen von Klein ist der Hund nur noch so groß wie sie selbst und damit klein genug, um durch die Katzentür ins Haus zu gelangen. Vor diesem Hund muss selbst Kleins furchtsame Familie keine Angst mehr haben. Beschämt von ihrem Verhalten nehmen die Hoops den schwarzen Hund auf.

In zwölf großformatigen und vielen kleinen Bildern erzählt Levi Pinfold in seinem zweiten Bilderbuch „Der Schwarze Hund“ davon, wie sich Klein Hoops Familie zunehmend in Panik redet. So wie Angst ein fremdes Wesen ,vergrößern’ kann, lassen die panischen Beschreibungen der Familie den Hund immer riesiger werden. Dass dies eigentlich Einbildungssache ist, wird hier auf amüsante Art in der Erzählerrede und im Bild ignoriert, nichts deutet nämlich darauf hin, dass der Hund nur in der Phantasie der Familienmitglieder wächst. Die Größenvergleiche scheinen wie Zaubersprüche zu wirken. Umso mutiger ist Kleins Entschluss, dem ‚Größenzauber’ ein Ende zu bereiten. Sie allein erkennt, dass es die Worte ihrer Eltern und Geschwister sind, die das wundersame ‚Wachstum’ des Hundes verursacht haben.

Geschickt nutzt Pinfold die gesamte Fläche der Doppelseiten für seine Kompositionen. Die meisten Szenen, die im Innern des Hoopschen Hauses spielen, sind nach ähnlichem Muster gestaltet: Auf der rechten Seite bildet jeweils ein ganzseitiges Farbbild, das wie eine eingefrorene Momentaufnahme wirkt, einen prägnanten Moment des auf der linken Seite platzierten Textes ab. Dieser wird von vier bis acht unterschiedlich kleinen Miniaturen in Sepiatönen begleitet. Diese weißgerahmten kleinen Bilder stellen weitere Außen - und Innenmomente der Geschichte dar, zum Beispiel das Wachsen des Hundes oder die Reaktionen der Hausbewohner, die in ihrer Aufregung aus dem Bildrahmen hinauslaufen. Die Komposition ändert sich mit dem Wechsel der Szenerie nach draußen: Wenn Klein Hoop mit dem Riesenhund durch den Wald und über einen im Schnee verlassenen Spielplatz tobt, erstreckt sich die Farbzeichnung über die oberen zwei Drittel jeder Doppelseite. Dem Text im unteren Drittel wird ein einziges kleines, wiederum in Sepia gehaltenes, Bild vorangestellt. Auf dem Höhepunkt der Geschichte, wenn Klein Hoop dem Hund zum ersten Mal gegenübertritt, nimmt das farbige Bild sogar die komplette Doppelseite ein. Selbst in dieses größtmögliche Bild passen nur der Kopf und die Pfoten des Tiers: Der Text scheint von dem schwarzen Ungetüm in die obere, linke Ecke gedrängt, während Klein Hoop diagonal dazu als gelber Farbfleck am unteren, rechten Bildrand platziert ist.

Diese sorgfältige Seitenkomposition wird besonders von dem Kontrast in der Farb- und Technikauswahl unterstützt. Die Miniaturen sind in einer Kreide-Tempera-Mischtechnik gehalten und erwecken durch ihre Farbgebung den Eindruck vergilbter Fotografien. Die großen Bilder dagegen sind reine, sehr detaillierte Tempera-Malereien. Auf den Bildern, die einen Innenraum des Hauses darstellen, dominieren ein bis zwei auffällige Farben die ansonsten eher gedämpfte Farbpalette. So ist Moritz Hoops Zimmer mit grasgrünen Akzenten ausgestattet, das Badezimmer mit gelben. In demselben Goldgelb ist der Mantel gehalten, den Klein Hoop sich überzieht, wenn sie hinausgeht. Auf diese Weise ist sie trotz ihrer geringen Größe immer gut in der weiß-grauen Winterlandschaft zu finden, durch die der Hund sie jagt. Selbst die bunten Geräte auf dem Spielplatz scheinen verblasst gegen das kräftige Gelb des Mantels und das Schwarz des Hundes.

Auffällig ist bei allen großformatigen Bildern der Detailreichtum – es lohnt sich, die Zimmer des Hauses einmal genauer zu studieren. Ein grasgrüner Stoffoktopus taucht in fast allen Räumen auf, selbst im Bad – ein ungewöhnlicher Farbtupfer, nach dem man spätestens beim zweiten Lesen unwillkürlich sucht. Man beachte auch die vielen Tiere und Spielsachen: Manchmal ist gar nicht so deutlich zu erkennen, ob es sich bei einer Gestalt eigentlich um ein Haustier oder ein lebloses Spielzeug handelt. Die im Haus verstreuten Stofftiere und andere Spielzeuge schauen den Betrachter oft mit großen Augen an; die Spielfiguren scheinen ebenso in Aufregung versetzt wie die Hausbewohner und verleihen den Bildern etwas Phantastisches. Levi Pinfold gelingt es, die Geschichte vom schwarzen Hund geschickt in der Schwebe zwischen realistischer und phantastischer Darstellung zu halten. Für jüngere Leser kann dies schwer zu entschlüsseln sein, zumal die realistischen Anteile der Bilder anachronistisch oder gar skurril wirken.

Auch die Gesamtkonstruktion des Buches erzeugt Irritationen. Auf dem Titelbild sind das einsame Haus im verschneiten, schwefelig-nebeligen Birkenwald und ein – erst auf den zweiten Blick zu entdeckender – riesiger Pfotenabdruck zu sehen. So wird eine düstere Schaueratmosphäre heraufbeschworen, die jedoch mit den ersten bunten Bildern in den Hintergrund tritt. Dem Betrachter werden keine eindeutige Hinweise geliefert, welche Art von Geschichte ihn im weiteren Verlauf erwartet. Die dadurch verursachte Verunsicherung verstärkt zusätzlich die Frage, ob nicht zumindest einzelne der phantastisch anmutenden Elementen des Buches real sind. Ist der Hund vielleicht doch nicht nur in der Phantasie der Hoops gewachsen? Die Zweifel werden verstärkt durch die hintere Umschlagdoppelseite, die ‚eigentlich’ gar nicht mehr zur Geschichte gehört: Sie zeigt erneut große Tierspuren im Schnee – jedoch andere als zuvor ...

So ist „Der Schwarze Hund” ein vielschichtiges Bilderbuch, an dem erwachsene Vorleser genauso viel Spaß haben können wie jüngere Selbstleser. Und vielleicht erinnert sich der eine oder andere bei der nächsten Begegnung mit einem vermeintlichen Untier daran, was unbedachte Worte anrichten können.

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