Cottrell Boyce, Frank: Der unvergessene Mantel
Gegen das Verschwinden
von Robert Kamp (2012)
„Ich möchte, dass ihr gemeinsam mit mir ein neues Gesicht in unserer Klasse begrüßt“: Eines Morgens taucht Dschingis zusammen mit seinem kleinen Bruder auf dem Schulhof auf. Die beiden stammen aus der Mongolei. Mitten im Sommer tragen sie seltsame Mäntel und Fellmützen. Dschingis soll von nun an in Julies Klasse gehen. Vehement wehrt er sich dagegen, dass sein kleiner Bruder, den er „Nergui“ nennt, in eine andere Klasse geschickt wird. Nicht einmal die Mützen wollen die beiden abnehmen.
Julie selbst ist eigentlich ein ganz normales Mädchen: Sie hat eine beste Freundin, ist unglücklich verliebt, hat ein Faible für Schminke. Und doch – oder gerade deshalb – ist sie fasziniert von der Auflehnung, von der Kleidung, von einfach allem, was an den ‚Neuen’ so anders ist. Es dauert nicht lange und sie wird von den beiden als „Guter Ratgeber“ engagiert, den man als echter Mongole eben braucht, wenn man an einem fremden Ort ist. Von nun an verbringt sie viel Zeit mit den Jungen.
Frank Cottrell Boyce ist ein Jugendbuchautor, dessen Erstlingswerk „Millionen“ im Jahr 2004 zahlreiche Preise gewann. In seinem ebenfalls von Salah Naoura übersetzten Roman „Der unvergessene Mantel“ erzählt er die Geschichte zweier Brüder, die mit ihrer Familie aus der Mongolei geflohen und schließlich in Bootle, einer Kleinstadt in der Nähe von Liverpool, gelandet sind: Viele Jahre später betritt die mittlerweile erwachsene Julie noch einmal ihre alte Schule, die abgerissen werden soll. In einer Kiste mit Fundsachen entdeckt sie Dschingis’ Fellmantel und findet in der Manteltasche auch Fotos von damals. Sie erinnert sich an diesen denkwürdigen Sommer und schreibt rückblickend die kurze Geschichte auf, die so unverhofft endet wie sie begonnen hat.
Boyce wählt hierfür eine jugendlich-einfache, aber dennoch sehr ausdrucksstarke Sprache. Teils schildert er detailliert und bildhaft, teils auch – besonders in den ernsteren Passagen der Geschichte – sachlich und schlicht. Auffällig ist, wie exakt die erwachsene Julie sich bisweilen an das Geschehen von damals erinnern kann beziehungsweise wie ausführlich sie es zumindest erzählt. Hierdurch entsteht eine Art zeitlicher ‚Unschärfe’, da man als Leser geneigt ist, die erhebliche zeitliche Distanz zwischen den Erzählebenen zu vergessen.
Julie liebt Dschingis’ Erzählungen von der Mongolei, wo alles so groß und wild und anders zu sein scheint. Sie entwickelt sich zu einer echten Mongolei-Expertin, weiß bald alles über das Zähmen von Adlern, über Riesenblumenbäume und geheimnisvolle Rituale mit Steinhaufen und Pferdeschädeln. Das Andere, Fremde ist zweifelsohne eines der Kernthemen der Geschichte: Hier prallen zwei Kulturen aufeinander. Wie bereichernd und spannend es sein kann, sich darauf einzulassen, das liest man aus jeder Zeile von Julies Aufzeichnungen heraus. Dem gegenüber stehen die beiden Brüder, die sich weniger unbekümmert in dieser neuen Situation zurechtfinden müssen.
Dschingis und Nergui sind zwei schräge Typen. Niemals nehmen die beiden zweimal hintereinander den gleichen Heimweg. Überhaupt weiß Julie gar nicht, wo sie wohnen. Einmal stehen sie plötzlich vor Julies Haustür und backen dann in ihrer Küche eine Teigfigur, die sie vor einem Dämon schützen soll. Dieser Dämon ist, da sind die Jungen sich sicher, hinter Nergui her, der sich zum Schutz sogar einen falschen Namen zugelegt hat: „Nergui bedeutet Niemand. Wenn der Dämon uns also mit Nergui sprechen hört, denkt er, wir sprechen mit niemandem.“ Sowieso ist ständig von dem Dämon die Rede, den sie mit immer neuen Methoden abzuhängen versuchen. Er zieht sich als wiederkehrendes Motiv durch den ganzen Roman, steht sinnbildhaft für die Flucht und die Furcht vor dem ‚Verschwinden’: „Viele Menschen verschwinden einfach. Fast alle, die wir kennen, sind verschwunden.“
Die Aufmachung des Buchs ist sehr liebevoll und ansprechend. Die Linierung wie in einem Tagebuch und gealtert und verknickt aussehendes Papier geben dem Buch einen sehr authentischen Look. Illustriert wird die Geschichte mit Fotografien von Carl Hunter und Clare Heney, die wie beiläufig eingeklebt zwischen den Sätzen platziert sind. Hauptsächlich handelt es sich hierbei um arrangierte ‚Landschafts‘aufnahmen sowie Bilder von relevanten Gegenständen aus der Geschichte. Zu der bereits erwähnten zeitlichen gesellt sich hier auch eine optische ‚Unschärfe’: Durch das Spiel mit dem Fokus sowie mit Licht und Schatten stellen die Aufnahmen eine stimmungsvolle Ergänzung zu Julies Erzählung dar.
Mehr und mehr stellt sich beim Lesen die Frage, inwieweit Dschingis’ Bild von seiner mongolischen Heimat, das er Julie mit seinen Geschichten und Polaroids näherzubringen versucht, nicht einfach eine bloße Wunschvorstellung ist. Schließlich entdeckt Julie, dass Dschingis seine Aufnahmen tatsächlich nicht in der Mongolei, sondern allesamt erst nach der Flucht in seiner neuen Heimat aufgenommen hat. Konstruiert er sich hier eine neue Erinnerung, um eigene, traumatisierende Erfahrungen ausblenden zu können?
Spätestens als Julie die Jungen dann doch einmal zu Hause besucht und die andere Seite ihrer Lebenswirklichkeit kennenlernt, erschließt sich auch die politische Dimension des Romans. Die Familie ist in einem Wohnhaus für Flüchtlingsfamilien untergebracht, gepackte Koffer stehen im Flur, und den Jungen ist es sichtlich unangenehm, dass Julie dort auftaucht. Eines Tages ‚verschwinden’ Dschingis und Nergui dann tatsächlich, nachdem sie schon am Tag zuvor aus der Schule weggelaufen sind und Julie ein letztes, denkwürdiges Abenteuer mit ihnen erlebt hat. Dass die beiden vor einer neuen Bedrohung fliehen wollten, das wird Julie erst jetzt bewusst. Die Lehrerin erklärt, dass sie sich laut dem Gesetz nicht in Großbritannien hätten aufhalten dürfen. Beim Lesen des kurzen Nachworts des Autors wird klar: So etwas passiert wirklich, dieses Problem ist ganz real. Viele Jahre später erhält Julie dann schließlich via Facebook ein unerwartetes Lebenszeichen von Dschingis und Nergui, und mit einem letzten Polaroid der beiden Erwachsenen endet die Geschichte.
In seinem Roman gelingt es dem Autor, eine aktuelle politische Problemstellung sensibel aufzubereiten. „Der unvergessene Mantel“ ist an vielen Stellen schräg und lustig und doch auch stets auf unaufdringliche Weise ernst. Ohne moralisierend zu wirken, macht die Geschichte, besonders in Kombination mit dem Nachwort, nachdenklich. Junge Leserinnen und Leser ab etwa 10 Jahren werden in diesem Roman eine unterhaltsame, auch optisch ansprechende Lektüre sowie eine Anregung zum Nachdenken finden.