Lindelauf, Benny: Unsere goldene Zukunft
Zukunft im Rückspiegel
von Julian Leibold (2012)
Fing Boon, eine gewissenhafte Schülerin, lebt zusammen mit ihren zwei Schwestern Müllche und Ness, ihren vier Brüdern, ihrem Vater und ihrer Großmutter Maij in einem niederländischen Dorf unweit der deutschen Grenze. Sie träumt davon, Lehrerin zu werden, doch das teure Ausbildungsseminar kann sich der Vater nicht leisten und so rückt Fings „goldene Zukunft“ in weite Ferne.
Der niederländische Autor Benny Lindelauf lässt in seinem Jugendroman „Unsere goldene Zukunft“ Fing von ihren Wünschen, ihren Enttäuschungen und der bitteren Realität in der Zeit zwischen 1938 und 1943 erzählen, einer Zeit, in der sich bald der scheinbar weit entfernte Zweite Weltkrieg mit all seinen Gräueltaten abspielt. Dass dieser Krieg schließlich auch in der Heimat ankommt, scheint nicht nur Fing zunächst nicht wirklich bewusst zu sein.
Eines Nachts sieht sie, wie der mächtige „Zigarrenkaiser“, der reichste Bürger des Ortes, und seine deutsche Frau, die „Prüüszesche“, ihren großen Nobelwagen am Haus der Boons vorbeischieben. „Was hatte der Zigarrenkaiser hier mitten in der Nacht zu suchen? Warum schob er seinen Wagen?“ Eine Nacht später spielt sich wieder etwas Merkwürdiges auf dem Feldweg vor dem Haus ab: Der „Zigarrenkaiser“ und seine Frau laufen durch die Felder, im Schlepptau ein unbekanntes Kind.
Dass dieses Kind in ihrem Leben noch eine große Rolle spielen wird, ahnt Fing nicht. Doch nur wenige Tage später steht sie vor der Tür des „Zigarrenkaisers“. Hier soll auf Befehl von Omm Maij für sie eine andere „goldene Zukunft“ beginnen: eine Festanstellung im Haus der Prüüszeschen. Fings Arbeit wird von nun an darin bestehen, sich um Liesl zu kümmern – um das Mädchen, dem sie nachts auf dem Feldweg begegnet ist. Liesl fehlt eine gute Kameradin, und genau darin besteht Fings Arbeit: Sie soll die ‚bezahlte‘ Freundin werden, was Liesl allerdings nicht wissen darf.
Doch Liesl ist kein gewöhnliches Kind: Sie ist störrisch, link und intrigant. Recht schnell hat das Mädchen Fing in der Hand und erpresst sie. Fing fragt sich, wer Liesl in Wirklichkeit ist: „Wo kam sie her und warum wohnte sie bei der Prüüszeschen?“ Sehr wichtig ist für Liesl ihr graues Kleid, das sie immerzu tragen möchte. Andere, viel schönere Kleider kommen für sie nicht in Betracht. Dies geht so weit, dass das Kleid gewaschen werden muss, wenn Liesl in der Wanne ist. Heiß aufgebügelt wird es nach dem Bad wieder angezogen.
Immer stärker drängt sich Liesl in Fings Leben. Diese ist mehr und mehr genervt von dem Mädchen und offenbart ihm, dass sie für die ‚Freundschaft‘ bezahlt werde. Aus Enttäuschung schwärzt Liesl Fing bei der Prüüszeschen an, sie habe im Haus gestohlen. Fings Arbeit im Haus des „Zigarrenkaisers“ endet damit. Zwar ist sie unschuldig, aber ihr Stolz ist zu groß, um dort noch einmal tätig zu werden.
Eher beiläufig kommt zur Sprache, dass Polen angegriffen wird, doch noch immer scheint es, als ob der Krieg sich am anderen Ende der Welt abspiele. Müllche freut sich sogar, denn mit dem Ausbruch des Krieges hat sie eine Wette gewonnen. Präsent ist dieser Krieg im niederländischen Dorf noch kaum.
Doch die Niederländische Nationalistische Partei erstarkt zusehends, jüdische Geschäfte müssen schließen, und eines Abends laufen deutsche Soldaten auch am Haus der Boons vorbei. Der Krieg ist angekommen und wird auch Teil von Fings Leben. So wird aus der erhofften goldenen eine ungewisse Zukunft. Panzer rücken ein, Jagdbomber fliegen über das Haus und entledigen sich hörbar ihrer tödlichen Fracht. Fings Brüder legen sich mit der deutschen Wehrmacht an, zusammen mit dem Vater werden sie verhaftet und nach Deutschland verschleppt, um dort in den Fabriken zu arbeiten. Nur durch einige zensierte Briefe erfahren die Zurückgebliebenen ein wenig von den Deportierten.
Von Liesl hört man nichts mehr, man sagt, sie habe das Dorf verlassen. Und auch die Juden des Dorfes müssen gehen, sie werden mit Zügen aus den Niederlanden verbracht. Auch die Prüüszesche – niemand aus dem Dorf hatte gewusst, dass sie eine Jüdin ist – wird deportiert.
Fing, inzwischen mitten in der Pubertät angekommen, verliebt sich, bekommt die ersten Küsse und wird, auch bedingt durch den Krieg, schneller erwachsen als es ihr lieb ist. Durch die Verbindung zu Filip, einem Jungen, der Mitglied der Niederländischen Nationalen Partei ist, bekommt sie einen nachhaltigen Eindruck von deren Denkweisen und Arbeit, bei der Gewalt und Einschüchterungen auf der Tagesordnung stehen. Fings allmähliches Bewusstwerden schildert Lindelauf sehr glaubhaft: Zwar erzählt die bereits ältere Fing ihre Geschichte aus der Rückschau und Distanz, sie reflektiert die Geschehnisse aber nicht als bereits Erwachsene. Ihre Beobachtungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen sind immer an die jeweilige Entwicklungsstufe kindlichen bzw. jugendlichen Begreifens gekoppelt: Während die junge Fing noch sehr naiv ist und Eindrücke wahrnimmt, die sie noch nicht einordnen kann, reflektiert die älter werdende Jugendliche mehr und mehr die Geschehnisse in ihrem Umfeld und bewertet diese zunehmend kritisch.
Der Anfang von „Unsere goldene Zukunft“ ist noch sehr bedächtig, doch zum Ende steigert sich das Erzähltempo. Dies geschieht parallel zu Fings Kriegserlebnissen, die sie aus der Rückschau kommentiert. Je näher sie am Geschehen ist, je näher der Krieg rückt, desto mehr Fahrt und Spannung nimmt die Geschichte auf. Auch die Sätze werden kürzer und direkter, sodass sich der Leser der Dramatik nicht entziehen kann.
Liesl, die von Omm Maij im Keller versteckt gehalten worden ist, taucht plötzlich wieder auf. Auch sie ist Jüdin, heißt eigentlich Leeba und wurde über die deutsche Grenze in die Niederlande gebracht. Fortan lebt Leeba im Haus der Boons, jedoch unter strengster Geheimhaltung.
Beinahe im gesamten Buch ist Fing die Ich-Erzählerin. Gegen Ende bricht Lindelauf mit diesem Schema: In einem bewegenden Kapitel wird Leeba zur Ich-Erzählerin und schildert ihre Flucht aus Deutschland. In dieser eingeschobenen Erzählung wird auch das Rätsel ihres grauen Kleides entschlüsselt.
Lindelauf benutzt vereinzelt Ausdrücke aus dem Aachener Platt, jiddische und auch einige niederländische Wörter sind nicht von der Übersetzerin Bettina Bach übersetzt worden. Deutsche Entsprechungen zu diesen Ausdrücken finden sich in einem Glossar am Ende des Buches.
Mit „Unsere goldene Zukunft“ hat Lindelauf einen Roman geschrieben, der nicht nur für reifere Kinder und Jugendliche geeignet ist. Mit viel Fingerspitzengefühl umschreibt er den Umgang mit den Juden, ohne direkt das unglaubliche Gräuel zu benennen, das an ihnen begangen wurde.
„Unsere goldene Zukunft“ ist der Nachfolgeroman von „Das Gegenteil von Sorgen“, das im Jahr 1937 spielt und bereits für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2008 nominiert war.
Auch wenn es scheint, als ende der Roman positiv, so ist der Krieg noch nicht vorbei. Fings Vater und ihre drei Brüder befinden sich noch immer in Gefangenschaft, und auch Leebas Schicksal wird nicht geklärt. Zurück bleiben viele Eindrücke, die man noch lange mit sich trägt, und insgeheim wünscht man sich, dass noch ein weiterer Roman über Fing und ihre Familie erscheinen möge.