Kommen Ihmchen, wenn man sie ruft?
Von Johanna Leonhardt, Annika Mast, Anna Möller und Svenja Schreiber (2021)
Nein, es ist nicht wie ein Vernutzel und schon gar nicht wie eine Grätsche. (Ja, Sie haben richtig gelesen, denn diese Wesen begegnen Ihnen gleich zu Beginn in Reemtsmas fantastischer Geschichte. Aber weiter im Text.) Es ist viel mehr als das, viel besser. Es ist der Porsche unter den Haustieren. Und jetzt ist es weg. Kurtpeter hat sein Ihmchen, seine Gnaupe, verloren. Da hilft nur Suchen – auch, wenn er ungern sucht und schon gar nicht, wenn es weiter weg ist. Begleitet wird er von Beinelars, den er zufällig auf der Straße trifft. Und von Linse, die am liebsten ziemlich anstößige Matrosenlieder singt.
Sie begegnen einer aufgeplusterten Grätsche, werden vom Überdimensionalkrokodil gefressen und übernachten bei einer Ihmchenfängerin. Und als wäre das alles nicht genug, treffen die drei am Ende auf die Höllenköchin und auf ihren Sohn, den schlimmen Urs.
Das erste Kinderbuch des Germanisten und Publizisten Jan Philipp Reemtsma liest sich wie eine skurrile Märchengeschichte. Man spürt förmlich die Formulierlust des Autors, seinen Spaß an Sprachverformungen und die Liebe zu Neologismen, die zusammen zu einem kuriosen Gedankenspiel einladen. Untermalt wird dies mit den typischen Illustrationen von Nikolaus Heidelbach, die wie gewohnt polarisieren.
Gemeinsam erschaffen beide eine komisch-düstere Welt, in der alles möglich scheint und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Dabei sind kindliche Vorstellungskraft und Fantasie entscheidend, um einen Zugang zum Buch zu finden. Durch die originelle und witzige Sprache wächst nicht nur die Neugierde der Kinder – sondern auch die der erwachsenen Leserschaft.
Die schnellen Gedankensprünge und Wortneuschöpfungen, die „Weg war das Ihmchen!“ besonders machen, könnten Leseeinsteiger*innen herausfordern. Deshalb eignet es sich besonders als Vorlesebuch für Kinder ab 8 Jahren oder für geübte Leser*innen ab etwa 10 Jahren.
Reemtsma, Jan Philipp
Weg war das Ihmchen!
Zürich: Kampa Verlag (2020)
144 Seiten
Ab 8 Jahren
Leseprobe:
Die drei hatten ganz vergessen, was sie sonst noch erlebt hatten, das nach dem Mann mit dem Hut, das mit dem Überdimensionalkrokodil. Vergessen vor Lauter-Ihmchen-aber-Kurtpeters-Ihmchen-ist-nicht-da und vor lauter Grießbrei-mit-Zimt und auch wegen dem Märchen (»wegen des!« würde Beinelars’ blau-weißer Onkel Justaf sagen, denn er war ja Grammatikverbesserer im Nebenberuf). Ungefähr so, wie sie eingeschlafen waren, wachten die drei auch wieder auf. Reckten sich, streckten sich, sahen sich um, erinnerten sich – »Mein Ihmchen!«, sagte Kurtpeter, da streckte Fritte Lindewind auch schon den Kopf aus der Küchentür: »Frühstück!« Das Frühstück war gut und reichlich (wie die Eltern von Kurtpeter gesagt hätten) – selbstgebackenes Hundertkornbrot mit Aprikose-Sauerkirsch- und Apfel-Nelke-Marmelade und Grießbrei mit Zimt; Zichorienkaffee (wenn man wollte) oder Holunderblütensiruptee (wenn man den lieber wollte) oder Tausendsprudelwasser mit Grünerosenblüten (wenn man das lieber wollte). Und sie aßen und tranken. Und während sie noch aßen und tranken, sagte Fritte Lindewind: »So.« Sie sah die drei an, die drei sahen sie an … – »Ich muss euch jetzt was erklären. Mit mir und den Ihmchen ist das nämlich so. Als ich ein Kind war, hatte ich auch ein Ihmchen. Ich war das einzige Mädchen weit und breit, das ein Ihmchen hatte. Ich hatte es furchtbar lieb. Aber eines Tages lief das Ihmchen weg. Ich hatte ihm etwas gesagt – nix Schlimmes, dachte ich, aber es war natürlich schlimm, ich gebe es ja zu. Es war jedenfalls weg.
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