Zusak, Markus: Die Bücherdiebin
[K]ein Sterbenswort
von Wiebke Groenewold und Ulrich Kelle (2008)
„In all den Jahren habe ich so viele junge Männer gesehen, die der Meinung waren, auf andere junge Männer zuzulaufen. Aber das stimmt nicht. Sie alle liefen mir zu.“, spricht der Tod, und er gewährt damit einen flüchtigen Einblick in seine Arbeit zu Zeiten des Krieges. Um das Jahr 1942 hätte er, wie er selbst sarkastisch sagt, besser „einen Besen oder einen Wischmopp“ gebrauchen können, statt der Sense, denn es galt, viele Seelen einzusammeln. Doch selbst der Tod gönnt sich hin und wieder eine kleine Ablenkung von seinem düsteren Alltag. Dafür wendet er sich dem Schicksal einer einzelnen Überlebenden zu - dem der „Bücherdiebin“.
Gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder soll die neunjährige Liesel Memminger an einem kalten Wintertag Anfang 1939 zu Pflegeeltern in ein kleines Dorf bei München gebracht werden. Doch noch während der Fahrt kommt es zu einem Todesfall: Liesels Bruder hört einfach auf zu atmen. Der Junge muss noch vor Ort beigesetzt werden, sodass seiner Schwester lediglich das „Handbuch für Totengräber“ als Erinnerungsstück bleibt, ihr erstes selbst gestohlenes Buch. Und das, obwohl sie gar nicht lesen kann.
In der Himmelstraße, ihrem neuen Zuhause, angekommen, macht sie die Bekanntschaft mit Rosa und Hans Hubermann. „Den Saukerl da, den nennst du Papa, verstanden?“ erklärt Rosa. Sie selber wird zu „Mama“ für das junge Mädchen, während Liesel fortan von ihr nur noch als „Saumensch“ gerufen wird. Dies ist der raue Umgangston, den die Hausfrau immer an den Tag legt, wenn sie einen Menschen besonders mag. Der Pflegevater hingegen kann der neuen Tochter seine Zuneigung ganz offen zeigen, und so entwickelt sich nach und nach zwischen den beiden eine besonders enge Beziehung: Sie dreht ihm die Zigaretten, er spielt für sie Akkordeon und jede Nacht, wenn das junge Mädchen von seinen Albträumen geplagt aufwacht, ist er zur Stelle, um es durch mitternächtliche Leseübungen von seinem Kummer abzulenken.
Ganz andere Ablenkung findet Liesel bei dem Nachbarsjungen Rudi Steiner. Der stets hungrige und sportbegeisterte Junge ist immer an ihrer Seite, wenn es darum geht, ein offenes Ohr zu haben, ihrer beider Mägen zu füllen oder auch weitere Bücher zu stehlen, um den Lesedurst der Bücherdiebin zu stillen. Dabei hat der Raufbold fortwährend im Hinterkopf, zur Belohnung einen Kuss von seiner dürren Nachbarin zu ergattern.
Alles könnte schön sein, wären da nicht der lauernde Krieg und die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten, denen sich weder die Hubermanns, noch Liesel und Rudi anschließen wollen, es zum Teil jedoch müssen. Eines Tages steht der junge Jude Max Vandenburg vor der Tür und sucht Zuflucht bei der Familie. Damit beginnt für sie alle ein Versteckspiel auf Leben und Tod …
In seinem zweiten Jugendbuch verarbeitet Markus Zusak die Erlebnisse seiner Eltern aus dem Zweiten Weltkrieg. Dabei übergeht er in seinen Schilderungen den Holocaust und andere Grausamkeiten des Krieges nicht. Vielmehr präsentiert er sie zunächst aus der eingeschränkten Sicht der Bevölkerung, die fernab der Kriegsschauplätze unbedarft ihren Alltag lebt. Doch durch die Wahl seines ungewöhnlichen Erzählers ermöglicht der Autor einen anderen Blick auf die Geschehnisse: Überwiegend sachlich schildert der Tod dem Leser seine Erfahrungen mit den Seelen dieser Zeit, so dass beispielsweise die wahre Bestimmung der Konzentrationslager oder auch andere Grausamkeiten, die der Krieg mit sich brachte, nicht mehr ausgespart bleiben.
Zur Gestaltung seines Romans bedient sich Zusak unterschiedlicher Mittel. Die wichtigsten Gedanken und Einwürfe des Erzählers werden in fettgedruckten Abschnitten, Todesanzeigen ähnelnd, hervorgehoben, was zu einer aufmerksameren Wahrnehmung durch den Leser führt. Des Weiteren werden vom Tod viele inhaltliche Informationen schon sehr früh vorweggenommen. Doch das Wissen darüber, was in der Zukunft der Protagonisten passieren wird, macht die Geschichte nicht weniger spannend. Vielmehr treibt es den Leser dazu an weiterzulesen, um zu erfahren, wie es zu den Geschehnissen kommen kann.
Im Verlauf der Handlung entstehen auf weiß übermalten Seiten von „Mein Kampf“ zwei Bücher: „Der Überstehmann“ und „Die Worteschüttlerin“. Max Vandenburg beschreibt und illustriert in ihnen während der Zeit im Keller der Hubermanns seine Gedanken, Ängste und Hoffnungen. Diese Werke werden dem Leser so präsentiert, wie Liesel sie sieht. Daraus entwickelt sich ein zusätzliches Spannungsfeld, das den Leser stärker involviert und außerdem erschauern lässt, wenn unter den Bildern und Texten des Juden noch immer die Worte Hitlers durchschimmern.
„Die Bücherdiebin“ lässt den Leser staunen, schmunzeln, mitfiebern und vielleicht sogar mitleiden. Aber in jedem Fall liefert es in einer Zeit, in der die Zeugen des Krieges immer weniger werden, ein authentisches Bild der Geschehnisse eben jener Jahre und stellt somit ein gelungenes Beispiel für Erinnerungsliteratur dar. Es wird außerdem deutlich, wie mächtig Worte sein können. Sei es, um mit ihnen zu trösten, mit ihnen glücklich zu machen oder auch durch sie zu töten …