Fox, Paula: Ein Bild von Ivan
Umweg zu mir
von Helga Coßmann und Katja Herberg (2008)
Harmonisch und in leisen Tönen erzählt, nimmt „Ein Bild von Ivan“ den Leser mit auf den langen Entwicklungsweg eines Jungen am Ende seiner Kindheit: Ivan hat alles, wovon andere Kinder träumen. Er hat Spielsachen im Überfluss, ein eigenes Hausmädchen und einen reichen Vater, der mit seinem Geld alles das kaufen kann, was Ivan sich wünscht. Doch Ivan ist reich und arm zugleich. Er ist reich an materiellen Dingen, arm aber an Liebe und Aufmerksamkeit. Ihm fehlt seine schon lange verstorbene Mutter, über die er so gut wie gar nichts weiß, sein Vater, der ständig geschäftlich unterwegs ist, und vor allem fehlt ihm sein Platz in der Welt und ein Wissen darüber, wer er eigentlich ist.
Eines Tages ist der verschlossene Ivan zum ersten Mal im Atelier des Malers Matt Mustazza, der von dem Vater des Jungen beauftragt wurde, ein Porträt von Ivan anzufertigen, in der Hoffnung, so das fliehende Glück und die rasende Zeit festhalten zu können. Dort trifft der Junge auch Miss Manderby, eine alte Frau, die ihm vorlesen soll, während er stillsitzen muss. Der Maler und die Vorleserin behandeln Ivan von Anfang an ganz anders, als er es gewohnt ist. Anstatt ihn zu bedauern, weil er Halbwaise ist, und ihm beschützend den Weg zu weisen, schließen sie Freundschaft mit ihm und ziehen ihn langsam in ihre bezaubernde Welt, decken auf, was hinter Ivans Schweigsamkeit steckt. Sie ermutigen ihn, Dinge über sich preiszugeben und erfahren schon bald von seinem Gefühl der Unvollkommenheit: Ivan weiß nicht, wie seine verstorbene Mutter aussah, wer sie war und wie sie war. Es gibt nur ein Photo von ihr, das er selbst nicht kennt, und sein Vater spricht nie über sie. Ivans einzige Information ist, dass seine Mutter als kleines Kind in einem Schlitten im Winter von Russland nach Warschau geflohen war. Von Ivan selbst gibt es unzählige Photos, die von seinem Vater überall im Hause aufgehängt wurden. Erkennen kann er sich darauf aber nicht. Der Maler stellt schon bald Ivans Bedürfnis nach einer Erinnerung an seine Mutter fest und zeichnet nicht nur Ivans Porträt, sondern auch ein Bild von der Schlittenfahrt und verleiht der Vergangenheit damit ein Gesicht.
Ivans neu gewonnene Freunde begegnen ihm offen und zeigen ihm eine Welt, die sich von seiner völlig unterscheidet. Schließlich darf er sie auf eine ereignisreiche Reise nach Kalifornien begleiten und lernt auf dem Weg dorthin, seine emotionale Verschlossenheit abzulegen. Auf den ersten Blick sind es nur Kleinigkeiten, die er erlebt, doch am Ende werden gerade diese zu bedeutsamen Erfahrungen. Ivan begibt sich nicht nur auf eine Reise in eine unbekannte und paradiesische Umgebung, sondern vor allem auf den Weg, sich selbst zu finden und zu erkennen, wer er eigentlich ist. Ivans Erlebnisse und seine frische Freundschaft zu einem kalifornischen Mädchen verhelfen ihm zu einem gesunden Selbstbewusstsein, das sein Leben nachhaltig beeinflusst. Er erkennt, dass es Menschen gibt, die ihn vermissen und ihn brauchen, und erfährt, dass er vor allem Zuwendung findet, wenn er selbst Interesse an den Menschen zeigt. Der Ivan, der sich einst auf die Reise begeben hat, kehrt verändert wieder zurück.
Paula Fox schrieb diese Novelle bereits Ende der 1960er Jahre. Sie beschreibt in einem ruhigen, sinnlichen Erzählfluss die Entwicklungsgeschichte des 11-jährigen Ivan und schildert, wie die eintönige Welt dieses einsamen Jungen in eine ihn erfüllende verwandelt wird. Die Leser dürfen dabei, genauso langsam und gemächlich wie Ivan, die Charaktere der einzelnen Persönlichkeiten erfassen – besonders aber die der Mädchen und Frauen müssen parallel zur Suche nach dem Bild der Mutter begriffen werden. Ivan bekommt ein ganz anderes Bild, als es sein Vater in Auftrag gegeben hat, und als sein eigenes Porträt schließlich fertig ist, kann er sich zum ersten Male in (s)einem Bild erkennen. Beide Zeichnungen, die Schlittenfahrt und das Porträt, sind ein wichtiges Symbol seiner Selbsterkenntnis und Selbstfindung, und Ivan erhält neben den zwei gemalten Bildern noch ein weiteres dazu: ein vollkommen neues Selbstbild.