Boyne, John: Der Junge im gestreiften Pyjama
Grenzgänger
von Moritz Jansen und Kristin Pietsch (2008)
Als seine Familie umziehen muss, gerät das Leben des neunjährigen Bruno völlig aus den Fugen. Sie verlassen ihr schönes großes Haus mitten in Berlin, hin zu einem Ort, an dem es kein Lachen und keine Freude zu geben scheint – nur einen langen Zaun und jede Menge Soldaten. Bruno kann sich anfangs nur schwer mit der neuen Situation anfreunden. Er vermisst seine Freunde, seine Stadt und am allermeisten vermisst er es, seine Umwelt zu erforschen, so wie er es in Berlin immer getan hat. Doch plötzlich entdeckt er etwas hinter dem Stacheldraht: Menschen! Sie alle tragen gestreifte Pyjamas. Und Bruno findet auch einen neuen Freund namens Schmuel. Doch es gibt ein Problem: Schmuel wohnt auf der anderen Seite des Zauns …
Der historisch informierte Leser ahnt schnell, in welcher Zeit Bruno lebt und an welchen grausamen Ort es ihn verschlagen hat. Sein Vater ist Kommandant, der „Furor“ hat Großes mit ihm vor. Die Familie lebt fortan in „Aus-Wisch“. So jedenfalls erzählt es Bruno. Er ahnt zwar, dass der Umzug und sein neues Leben nichts Gutes bedeuten, doch scheint er in seiner Naivität die wahren Vorgänge nicht begreifen zu können oder zu wollen.
Der Junge – so die fiktionale Konstruktion des Autors – ist gänzlich auf sich allein gestellt, muss die Welt und die Geschehnisse um sich herum selbstständig erforschen und einordnen. Seine Eltern oder andere Erwachsene erklären ihm nichts. In dieser Situation freundet er sich mit Schmuel an, dem dünnen, kränklich wirkenden Jungen auf der anderen Seite des Zauns. Da sie diese Grenze vom gemeinsamen Spiel abhält, beginnen die beiden Kinder zu reden und es stellt sich heraus, dass Bruno und Schmuel mehr gemeinsam haben, als sie zunächst denken. Sie müssen beide unfreiwillig fern von zu Hause leben und beide haben sogar am gleichen Tag Geburtstag.
Es mag unglaublich wirken, dass ein neunjähriger Junge, der mitten in Berlin lebt und zur Schule geht, also lesen und schreiben kann, und auch sonst nicht auf den Kopf gefallen zu sein scheint, nichts von Hitler, Krieg und Judenverfolgung weiß. Doch diese Ungereimtheiten scheinen gewollt und eröffnen dem Leser eine beeindruckende, kindliche Perspektive auf die Schrecken des Nationalsozialismus. Die Auslassungen, die man auf Brunos Unwissenheit zurückführen kann (oder verschließt er die Augen vor der schrecklichen Wahrheit?), verstärken die Grausamkeiten, über die der historisch informierte Leser dennoch im Bilde ist, noch zusätzlich.
Dennoch kommt man nicht umhin, an manchen Stellen über Brunos Einfälle und seine Ausdrucksweise zu schmunzeln. Es bleibt einem allerdings das Lachen im Halse stecken, wenn Bruno wiederholt neidisch auf seinen Freund Schmuel ist, denn schließlich darf der den ganzen Tag im Schlafanzug herumlaufen und hat auf seiner Seite des Zauns andere Kinder zum Spielen, während sich Bruno schrecklich einsam fühlt.
In der Les(e)bar - Redaktion wurde das Buch lebhaft diskutiert. Dabei sind einige Fragen aufgeworfen worden, die wir hier kurz skizzieren wollen:
Unter anderem wird moniert, dass durch die scheinbare Verharmlosung der Ereignisse, Leser ohne große Vorbildung ein falsches Bild von diesem Teil der Weltgeschichte erhalten könnten. Das Herunterspielen dieser Gräueltaten und die Verdrehung von historischen Fakten könnten auf die Unwissenheit des Autors zurückzuführen sein. Sollte dies allerdings mit Absicht geschehen sein, stellt sich die Frage: Warum? Außerdem drängt sich die Frage auf, warum Boyne die NS-Zeit und den Ort Auschwitz als Handlungsträger auswählte. Der Verdacht liegt nahe, dass sich damit ein großes Interesse beim Publikum wecken lässt, was ja auch durch die sofortige filmische Umsetzung bestätigt wird. Des Weiteren stellen wir in Frage, ob es unbedingt nötig ist, Bruno auf diese Weise zu infantilisieren. „Furor“ und „Aus-Wisch“ sind keine Wörter, die ein Junge in seinem Alter nicht aussprechen kann. Außerdem verhält er sich im Kontrast dazu in einigen anderen Szenen für sein Alter doch recht erwachsen. Die interne Figurenkonstruktion wird daher als nicht stimmig empfunden.
John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist mit Sicherheit kein einfaches Buch. Der Leser sollte den historischen Hintergrund bereits kennen oder einen Vermittler zur Seite haben, der den Kontext erklärt, da er die Andeutungen ansonsten nicht verstehen kann. Es lässt einen nachdenklich und beeindruckt zurück und bietet Stoff für kontroverse Diskussionen.