Dowd, Siobhan: Der Junge, der sich in Luft auflöste
Kommissar mit Handicap
von Jane Eschment (2008)
Eigentlich beginnt alles mit einem Brief von Tante Gloria und der harmlosen Ankündigung ihres Kurzbesuches bei der Familie ihrer Schwester in London ... Doch was mit diesem blasslila Blatt Papier anfängt, entwickelt sich innerhalb von zwei Tagen für die ganze Familie Sparks zu einem wahren Hurrikan.
Können Menschen sich in Luft auflösen? Mit normalem Verstand würde jeder diese Frage verneinen. Aber was ist schon normal? Genau nach einer Umdrehung des Londoner Riesenrades, exakt um zwei Minuten nach zwölf, als Salim, Teds und Kats Cousin, aus der Gondel hätte aussteigen müssen, jedoch wie vom Erdboden verschluckt bleibt, steht jedenfalls alles auf dem Kopf. Zumindest im übertragenen Sinne.
Ted, ein Junge von zwölf Jahren und Ich-Erzähler der Geschichte, begibt sich nach Salims Verschwinden gemeinsam mit seiner großen Schwester Kat auf Spurensuche. Während Tante Gloria versucht, die Verzweiflung und Angst über das Verschwinden ihres Sohnes mit Zigaretten und Cognac zu betäuben, tappt die Polizei mit ihren Ermittlungen im Dunkeln. Auch Mum und Dad sind ratlos, doch Spekulationen ihrer Kinder sind das Letzte, was sie in dieser angespannten Situation hören wollen. Ignoriert von den Erwachsenen, beschließen Ted und Kat, den „Fall Salim“ selbst in die Hand zu nehmen.
Teds Leidenschaft sind Systeme. Als er noch ein Kleinkind war, haben die Ärzte bei ihm „so ein komisches Syndrom“ diagnostiziert, das schuld daran ist, warum ihm in der Schule die Etikettierung „Strinner“ anhaftet. Ein Streber und Spinner eben. Fakten saugt er ein wie ein Staubsauger, sein Gehirn funktioniert wie ein genialer Riesencomputer. Und trotzdem hält Kat ihm regelmäßig vor, er solle endlich diesen „Ich-bin-zu-blöd-zum-Scheißen-Blick“ ablegen. Teds Lieblingsplatz ist hinten im Garten, dort lässt es sich am besten nachdenken, und außerdem kann er dort das Wetter beobachten. Sein Traumberuf: Meteorologe. Und mit dessen Vokabular charakterisiert er sein gesamtes Umfeld. Ihn verwundert es überhaupt nicht, dass einer der verheerendsten Stürme aller Zeiten den Namen seiner Schwester trägt: Katrina. Diese ist schwer pubertär, und ihr größtes Problem ist es, eine neue coole Frisur und die passende Nagellackfarbe zu finden.
Bis Salim verschwindet. Durch die gemeinsame Suche werden die Geschwister zu Verbündeten. Teds Gehirn entwickelt die wildesten Theorien. Spontane Selbstentzündung, das Verschwinden in einer Zeitschleife oder die Möglichkeit, dass sich Salim beim Verlassen der Gondel unter den Kleidern eines anderen Riesenradbesuchers versteckt haben könnte, werden schnell ausgeschlossen. Aber ist es möglich, dass er absichtlich verschwunden ist? Hat der bevorstehende Umzug nach New York, oder hat der langhaarige Mann vom Security-Kommando etwas mit der ganzen Sache zu tun?
Auf der Suche nach dem verschwundenen Cousin schickt Siobhan Dowd das Geschwisterpaar auf die Spuren von Sherlock Holmes. Teds autistische Züge charakterisieren ihn als analytischen Ermittler, der den Leser bei der Lösungsfindung immer wieder um die Ecke denken lässt. Der inhaltliche Spannungsbogen wird stilistisch durch direkte Leseransprachen unterstützt. Mitdenken erlaubt. Mit einer trocken-komischen Sprache gelingt es Dowd, die Welt aus der Sicht eines andersartig begabten Jungen zu schildern, der sich durch eine ganz besondere Cleverness auszeichnet. Und der seine ganz eigenen Theorien zu den Phänomenen der Welt entwickelt: zum Tod, zur Gefährlichkeit beim Rasieren und eben auch zu Salims Verschwinden. Mit geistreichen Wortkreationen, welche Dowd in Teds „tanzende Gehirnwellen“ legt, entwickelt sie eine spannende Detektivgeschichte, gepaart mit einer guten Portion Witz. Neben meteorologischem Wissen führt sie uns sprachlich immer wieder die Ungewöhnlichkeit von Redewendungen vor Augen. Was bedeutet es denn eigentlich, wenn Dad davon spricht, dass es junge Hunde vom Himmel regne? In Teds Kopf jedenfalls entsteht sofort das Bild von herabfallenden Dalmatinerwelpen. Und dass seine Mutter sich manchmal so über ihre Tochter ärgert, dass sie diese am liebsten mit den Zehennägeln an der Wäscheleine aufhängen würde, lässt Ted die Haare zu Berge stehen.
Nach dem Debütroman „Ein reiner Schrei“ („Buch des Semesters 2006/2007“ in der Lesebar) wurde auch Siobhan Dowds zweites Werk „Der Junge, der sich in Luft auflöst“ im Carlsen Verlag veröffentlicht. Darüber hinaus hat der Verlag noch für zwei weitere Bücher der im Jahre 2007 verstorbenen Autorin die Rechte erworben. Wir sind gespannt!