Kantor, Avram: Die erste Stimme. Ich und mein Bruder – mein Bruder und ich
Sprachlos
von Helga Coßmann und Katja Herberg (2008)
„Ich glaube, er schämte sich einfach, einen Bruder wie mich zu haben, einen der nicht sprechen konnte, das heißt einen Stummen oder so. Er mochte nicht, dass man mich außerhalb des Hauses sah und dass die anderen erfuhren, dass ich sein Bruder war.“
Der große Bruder ist für den Kleinen etwas ganz Spezielles: der große Bruder eben. Er ist nicht nur älter und reifer und deshalb erfahrener, sondern auch ein Vorbild, dem man natürlich gefallen möchte und von dem man geliebt werden will. Aber was tun, wenn der Große nicht das geringste Interesse am Kleinen hat, ihn sogar für blöd hält und sich für ihn schämt? Was tun, wenn der ältere Bruder einfach nicht begreifen will, dass ihn mehr mit dem Jüngeren verbindet, als er es jemals anzunehmen vermag?
Der Protagonist und Ich-Erzähler der Geschichte, ein zwölfjähriger Junge, dessen Name dem Leser verschwiegen bleibt, lebt mit seinen Eltern und den älteren Geschwistern Meirav und Kobi in der israelischen Großstadt Tel Aviv. Weil er nicht sprechen kann, halten ihn die einen für dumm, die anderen nennen ihn einen Autisten, doch keiner ahnt, dass in dem Jungen viel mehr steckt: Zwar kann er nicht reden, doch dafür kann er umso besser hören. Und außerdem hat er ein Geheimnis, das er bislang noch niemandem verraten hat – er kann sogar lesen und schreiben.
Kobi redet so gut wie nie, schon gar nicht mit seinem kleinen Bruder, dem „armen Trottel“, und behält das meiste einfach für sich. Kein Wunder, dass niemand weiß, wo er hin ist, als er überraschenderweise verschwindet. Wer hätte gedacht, dass es ausgerechnet dem stummen, kleinen Bruder gelingt, herauszufinden, wo sich Kobi aufhält? Selbstverständlich niemand! Denn neben dem Geheimnis des Lesens und Schreibens, gibt es noch eine Sache, die keiner weiß: Der Junge nutzt den Computer nicht nur um daran zu spielen, sondern mit seiner Hilfe findet er heraus, was seinen großen Bruder interessiert und womit sich dieser beschäftigt.
Nach seinem Verschwinden kehrt Kobi ganz verwandelt zurück: Er kommt, was für ihn ungewöhnlich ist, direkt nach der Schule nach Hause, nimmt am Abendessen teil, aber verbringt den größten Teil seiner Freizeit in seinem Zimmer. Der Kleine entdeckt, dass sich sein Bruder immer intensiver mit dem Judentum befasst und stellt seltsame Veränderungen an ihm fest. Kobi führt geheimnisvolle Telefonate, setzt auch innerhalb des Hauses seine Mütze nicht ab und lehnt die Speisen seiner Mutter ab, wenn diese ihre Menstruation hat. Außerdem spricht er immer wieder von den „sechs Ordnungen“, dem Erhalt der Seele und dem „König der Könige“. Die neu entwickelte, leidenschaftliche Gläubigkeit beunruhigt die ganze Familie, doch nur der kleine Bruder fasst einen Plan …
Avram Kantors „Die erste Stimme. Ich und mein Bruder – Mein Bruder und ich.“ thematisiert, neben der Geschwisterbeziehung, die immer deutlicher werdende Notlage Kobis, der allmählich in die Fänge einer ultraorthodoxen Sekte gerät. Die Tatsache, dass Kantor als Hauptfigur gerade einen benachteiligten Jungen ausgewählt hat, könnte den Leser möglicherweise verwirren, da die Verbindung zwischen den Ausführungen über die Stimmlosigkeit und die religiöse Problematik in Israel nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist.
Neben diesen beiden Schwerpunkten, greift Kantor weitere interessante Themen in seinem Roman auf. Durch diese zusätzlichen Inhalte, und auch durch ständige Rückblicke und ausführliche Darstellungen, wird stellenweise die eigentliche Problematik in den Hintergrund gerückt. Aus diesem Grunde richtet sich die Lektüre wohl vor allem an aufmerksame, motivierte Leser, die sich trotz gewisser Längen und Wiederholungen auf das Geschehen einlassen wollen. Die fortlaufenden Reflexionen des Jungen dagegen sind sehr interessant und seine Bemühungen um die Anerkennung des älteren Bruders wirken authentisch.
Das Buch wurde zunächst in Israel veröffentlicht und hatte sicherlich dort die Intention, Jugendliche vor religiösem Fanatismus zu beschützen. Dass diese Thematik für Leser unseres Kulturkreises teilweise fremd wirkt, liegt wohl daran, dass hierzulande nur wenig über das ultraorthodoxe Judentum und die politische Situation in Israel bekannt ist.