Röder, Marlene: Im Fluss
Die bekannte Fremde
von Claudia Beckers und Alexandra Widdekind (2008)
Wie Treibholz – so fühlt sich die verschlossene Mia oft und wird in eine Geschichte hineingerissen, in der die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen. Eine Neuanstellung des Vaters zwingt die 16-Jährige aufs Land, in eine einsame und scheinbar langweilige Gegend am Fluss. Dort lernt sie den Nachbarsjungen Alex und seinen verträumten Bruder Jan kennen. Sie erlebt bald, dass eine über das normale Maß hinaus lebendige Natur, Fischkadaver im Gebüsch und fremde, nasse Fußspuren Böses erahnen lassen.
Marlene Röder verknüpft in ihrem Debütroman die Erlebnisse der drei Jugendlichen. Sie lässt die Protagonisten mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Gefühlen abwechselnd zu Wort kommen. Der Leser weiß dadurch immer mehr als die einzelnen Figuren. So entsteht ein Geflecht aus Liebe und Hass, Sehnsucht und Angst und wohligem Grauen. Man erfährt dabei von Mias Verletztheit und ihrer sich langsam entwickelnden Liebe zu Alex, von dessen kindlichen Phantasiereisen über den Globus und dem Geheimnis, das hinter Jans Ausflügen zum Fluss steckt.
Zu Beginn der Geschichte ist Mia eine Einzelgängerin, die sich in schwarze Kleidung hüllt und den Kontakt zur Dorfjugend meidet. Die Liebe zur klassischen Musik und ihrem Cello bilden einen Kontrast zu ihrer sonst düsteren Erscheinung. Erst Alex kann Zugang zu Mia finden. Er, der sonst sehr selbstständig wirkt und oft seiner Großmutter und seinem jüngeren Bruder hilfreich zur Seite steht, ist innerlich sehr verletzlich, wenn es um seine verschwundene Mutter geht. Jan hingegen ist anders, ein direkt seltsamer Junge mit verschiedenfarbigen Augen, der die Stimmen der Natur mit seinen Sinnen aufzusaugen vermag und mit unsichtbaren Wesen spricht. Die beiden Brüder leben gemeinsam mit ihrer Großmutter und ihrem Vater in einem Haus am Fluss. Die Steinflössers scheinen im ersten Moment eine ganz normale Familie zu sein, jedoch hüten der Vater und die Großmutter ein dunkles Geheimnis, von dem Alex und Jan nichts wissen.
Durch poetisch-sinnliche Wortschöpfungen spürt der Leser förmlich, was die Protagonisten empfinden und erleben. Und so nimmt auch er die Töne, die wie Kirschblüten auf Jans Gesicht fallen, die „silberzüngelnden“ Weiden, seufzenden Bäume und die „flüchtigen Finger“ der Vorboten des drohenden Sturmes wahr. Auf diese Weise begleitet er die drei Jugendlichen von Frühling bis Winter auf ihrem Weg durch ein abenteuerliches Jahr, in welchem sich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ nicht nur inhaltlich, sondern auch formal in den einzelnen Kapiteln widerspiegeln.
„Im Fluss“ zieht durch seine Vielschichtigkeit und seine versteckten Details den Leser in einen Bann, der es fast unmöglich macht, das Buch beiseite zu legen. Der besondere Reiz des Romans ergibt sich vor allem aus den mystischen Elementen, die sich in den ausdrucksvoll geschilderten Sinneswahrnehmungen und der bedrohlich handlungsfähig dargestellten Natur zeigen. Durch sie und viele kleine, hintersinnige Einzelheiten, die beim ersten Lesen noch gar nicht richtig auffallen, kommt man in einer angenehmen Mischung aus Behagen und Spannung immer wieder ans Rätseln. Der Roman lädt somit Jugendliche wie Erwachsene dazu ein, auch bei mehrmaligem Lesen immer noch Neues zu entdecken und dem Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen ...
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