[Sammelrezension „Schule in fremden Kulturen“] Moradi Kermani, Hushang: Eines Morgens war die Chomreh leer / Khalil, Taha: Das Heft meines Freundes / Jiang, Ji-Li: Das Mädchen mit dem roten Tuch / Ellis, Deborah: Die Sonne im Gesicht
Überall in der Welt
von Karin Vach und Antje Fenger (2004)
Fremden Kulturen begegnen wir in den Medien, auf Reisen oder unmittelbar im Alltag. Fremdes wird erkennbar im Unterschied zum Bekannten, Vertrauten und Eigenen. Es macht sich fest im Anderssein. Dabei zeigt sich, dass fremde Kulturen oftmals ambivalent oder mit Vorurteilen beobachtet und bewertet werden. Auch Kinder- und Jugendbücher aus Afrika, Lateinamerika und Asien haben es schwer, sich im Mainstream des Büchermarktes zu behaupten. Dennoch erscheint es viel versprechend, gerade Heranwachsende zu einem offenen Austausch über Fremdes und Eigenes zu ermutigen. Da die Schule einen breiten Raum in der Alltagswirklichkeit der Heranwachsenden einnimmt, bietet sie sich an als Ausgangspunkt für eine Entdeckungsreise zu fremden Kulturen. Die im Folgenden vorgestellten Kinder- und Jugendbücher können dazu anregen, sich überraschen zu lassen von Schule unter anderen Bedingungen, neugierig zu werden, sich berühren zu lassen von dem befremdend Neuen und auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.
Der iranische Kinderbuchautor Hushang Moradi-Kermani entführt die Leserinnen und Leser mit der Erzählung „Eines Morgens war die Chomreh leer“ in ein entlegenes Bergdorf im Iran. Der Weg zur nächsten Stadt ist im Winter über die verschneite Passhöhe kaum zu bewältigen. Die klimatischen Verhältnisse des Ortes sind von der Wüste beeinflusst. Die Wärme im Frühjahr und Sommer lässt die Vegetation rundherum in voller Pracht erblühen. Im Herbst und Winter dagegen fegt der kalte Wüstenwind über das Dorf und bringt eisige Nächte. Die Lage des Dorfes ist für den Iran nicht ungewöhnlich, bestehen doch weite Teile des Landes aus Wüstenhochland und Gebirgen.
Die Kinder werden in der Dorfschule von einem jungen Lehrer aus der Stadt unterrichtet. Mittelpunkt des Schullebens – zugleich Leitmotiv der Geschichte – ist die Chomreh, ein großer Wasserkrug aus Ton. Das Trinken aus der Chomreh ist ein wichtiges Ritual des Schultages. Die Größeren helfen den Kleinen beim Wasserschöpfen, geduldig müssen die Kinder warten, bis sie dran sind und schließlich dient Wassertrinken nicht nur zum Durstlöschen, sondern ist einfach Vergnügen. Die Not ist groß, als in einer der kalten Herbstnächte die Chomreh gesprungen und nun undicht ist. Sie muss gekittet oder ersetzt werden, aber mit Hilfe von außen ist vorerst nicht zu rechnen. Episodenhaft wird von den Bemühungen der Dorfbewohner erzählt, eine neue Schul-Chomreh zu beschaffen. Das sensible Beziehungsgeflecht der Menschen im Dorf, ihre Eigenarten, Gedanken und Gefühle entfalten sich vor allem in den gemeinsamen Gesprächen sowie durch Kommentierungen des Erzählers bei einer insgesamt schlichten Erzählweise. Wie nebenbei vermittelt der Autor faszinierende Einblicke in Sitten und Bräuche, in magische Vorstellungen und das Geschichtenerzählen.
Hushang Moradi-Kermani hat selbst bis zu seinem zwölften Lebensjahr in einem Bergdorf gelebt. Seine Bücher sind im Iran sehr populär, einige sind verfilmt worden. 1992 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert. „Eines Morgens war die Chomreh leer“ unterscheidet sich von vielen modernen iranischen Kinderbüchern, die traditionelle, märchenhaft-fantastische Elemente enthalten. Brisant ist der aktuelle politische Bezug: Erst 2002 wurden hundert Lehrer bei Protesten gegen die schwierigen Bedingungen in den ländlichen Gebieten inhaftiert. Auch Herr Samadi, der junge Dorfschullehrer, hat zunächst nicht ahnen können, „wie schwierig und fremd das Leben auf dem Land ist“. Dennoch gibt er die Hoffnung für die Kinder und ihre Schule nicht auf: „Wir verbringen den Tag miteinander, die Schule ist unser Haus.“
Während Moradi-Kermani die Schule als Ganzes, die Schulgemeinde, betrachtet, erzählt Taha Khalil in „Das Heft meines Freundes“ eine Schulgeschichte aus der Perspektive eines kurdischen Jungen, der in Syrien lebt und dort in eine arabische Schule geht. Den Rahmen bildet ein fiktives Gespräch zwischen dem Autor und dessen Sohn. Taha Khalil ist Kurde und hat bis zu seiner Emigration in die Schweiz in Syrien gelebt. Sein Sohn bittet ihn: „Erzähl mir, wie es war, als du klein warst und du zur Schule gingst, Vater.“ Daraufhin beginnt der Vater die autobiographische Geschichte von Asâd, die dessen gesamte Schulzeit bis zur Arbeit als kurdischer Dichter im Untergrund umfasst.
Asâds Eltern setzen ihre Hoffnung auf den Schulbesuch ihres Sohnes, denn nur ihm und nicht den fünf Töchtern ist auf dem Land dieses Recht vorbehalten. Am ersten Schultag lernt er seinen besten Freund Ali, einen arabischen Jungen, kennen. Symbol ihrer kurdisch-arabischen Freundschaft sind die ausgetauschten Schulhefte, durch die Ali Asâd in einer brenzligen Situation vor dem Lehrer rettet. Später als Erwachsener verbrennt Asâd das Heft seines Freundes, da er sich von Ali wegen seiner Untergrundtätigkeit verraten fühlt.
Die Problematik Kurdistans entstand nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, als die Gründung eines eigenen Staates durch die Türkei, England und Frankreich verhindert wurde. Die Leserinnen und Leser erfahren, wie Asâd im Laufe seiner Schulzeit politisches Bewusstsein für die Ungleichbehandlung der Kurden entwickelt und wie vorsichtig er sich verhalten muss. So begreift Asâd nach und nach, was es bedeutet, dass es in Syrien keine kurdischen Schulen gibt, dass er in der Schule unter Androhung von Stockschlägen nicht kurdisch sprechen darf und dass die kurdische Literatur verboten ist.
„Das Heft meines Freundes“ ist in der renommierten Baobab-Reihe erschienen. Wie viele außereuropäische Autoren dieser Reihe verwendet auch Taha Khalil eine Montagetechnik. Er integriert in die Erzählung Rückblicke auf das Leben von Asâds Eltern, Sachinformationen, Gedichte sowie ein über vier Fortsetzungen verlaufendes kurdisches Märchen. Eingeschobene fiktive Dialoge mit seinem Sohn unterbrechen die Binnenerzählung und dienen zur Klärung von Fragen zu kurdischen Eigenarten und Traditionen. Die verschiedenen Textteile zusammen lassen ein sowohl verständliches als auch vielschichtiges und bewegendes Bild kurdischen (Schul-)Lebens in Syrien entstehen. Dabei wird deutlich, dass Schule immer im Zusammenhang mit politisch-gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen zu sehen ist. Besonders in Zeiten von Umbrüchen ist es augenfällig, dass Schule als Instrument des Staates eingesetzt wird.
Dies wird in dem Jugendroman „Das Mädchen mit dem roten Tuch“ von Ji-Li Jiang auf eindrucksvolle Weise vor Augen geführt. Die Leserinnen und Leser treffen hier auf die zwölfjährige Protagonistin Ji-Li, die sich in Zeiten großer politischer Verwirrung zurechtfinden und ihren eigenen Weg suchen muss.
Ji-Li ist eines der glücklichsten Mädchen der Welt. Sie hat eine Familie, die sie über alles liebt, ist die selbstbewusste und beliebte Klassenbeste in der Schule mit Ambitionen für eine verheißungsvolle Zukunft – die ganze Welt scheint ihr offen zu stehen. Dies ändert sich jedoch schlagartig mit Beginn der großen Kulturrevolution im China der 1960er Jahre – angeführt vom kommunistischen Führer Mao Ze-dong, der alle bisher bestehenden politischen und sozialen Verhältnisse umwälzt, um das Land von sämtlichen antikommunistischen Einflüssen zu reinigen.
Auch Ji-Li, die wie ihre Kameraden das rote Tuch als Zeichen der kommunistischen Verbundenheit trägt, ist begeisterte Anhängerin des geliebten Führers Mao und ahnt zunächst nicht, was für Veränderungen die Revolution mit sich bringt: Einen geregelten Schulalltag gibt es bald nicht mehr. Vergessen ist das Motto „Lerne fleißig und mache jeden Tag Fortschritte“, stattdessen wird das alte Schulsystem auf Plakaten angeprangert und Schule zum Ort der Propagandaverbreitung. Als Ji-Li ihre ehemals geschätzten Lehrer öffentlich denunzieren soll und aufgrund ihrer wohlhabenden Familie selbst Opfer der Kulturrevolution wird, kommen ihr Zweifel an der Ideologie Maos. Ihr „schlechter Klassenstatus“ beginnt sich auf ihr ganzes Leben auszuwirken. Loswerden kann sie ihn nur, indem sie sich gegen den inhaftierten Vater und damit gegen die ganze Familie stellt. Eine Entscheidung, die zur Zerreißprobe in Ji-Lis bisher so sorglosen Leben wird.
Die in Shanghai aufgewachsene Autorin erzählt ihre eigene Kindheit aus dem Blickwinkel eines in ständiger Angst lebenden Mädchens, das durch seine ebenso starke wie mutige Persönlichkeit die eigenen Bedürfnisse zurückstellt und Verantwortung für seine Familie übernimmt. Die Autorin berührt durch eine schlichte, ehrliche und emotionale Schreibweise, die gleichzeitig an der Gefühls- und Gedankenwelt der Ich-Erzählerin teilhaben lässt. So werden den Leserinnen und Lesern die fremden und erschreckenden Zustände näher gebracht. In dem bewegenden Buch offenbart sich neben den persönlichen und schmerzhaften Erfahrungen der Autorin viel neues Wissen, das dem jugendlichen Leser durch Erklärungen in Vorwort, Epilog und Glossar verständlich gemacht wird.
Im Gegensatz zu den ersten drei Autorinnen und Autoren, die alle über ihr Heimatland schreiben, erzählt die kanadische Schriftstellerin Deborah Ellis in dem Kinderbuch „Die Sonne im Gesicht“ über den Alltag eines afghanischen Mädchens unter dem Taliban-Regime.
Die elfjährige Parvana lebt in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Seit mehr als zwanzig Jahren herrscht hier Krieg und die regierenden Taliban haben Gesetze erlassen, durch die die Menschenrechte von Frauen und Mädchen radikal beschnitten wurden. So darf Parvana seit über einem Jahr nicht mehr zur Schule gehen und lebt mit ihrer sechsköpfigen Familie in einem einzigen Zimmer. Weil Frauen nicht alleine auf die Straße dürfen und der Vater im Gefängnis ist, kann keiner außer dem Mädchen für die Familie sorgen. So verdient sie als Junge verkleidet und unter Lebensgefahr den Unterhalt für ihre Angehörigen, indem sie auf dem Markt für die vielen Analphabeten im Land Briefe vorliest. Sie spürt die Ausmaße des Terrors in allen Bereichen, muss nicht nur mit ansehen, wie Dieben die Hände abgehackt werden, sondern auch wie ihre eigene Verwandschaft bedroht wird. Doch inmitten der Not erlebt sie – vor allem durch ihre außergewöhnliche Familie – dass mutiger Widerstand möglich ist.
Die lebendige und dialogreiche Erzählung überzeugt durch feine Beobachtung sowie gefühlvolle Sprache. Schonungslos zeigt sie die Lebensumstände Parvanas, die schon früh gezwungen ist, große Verantwortung für sich und ihre Familie zu übernehmen. Die kanadische Autorin gibt einen unmittelbaren und glaubwürdigen Einblick in einen Alltag, der geprägt ist von Unterdrückung, Angst und täglichem Überlebenskampf. Hierbei verarbeitet sie Erlebnisse aus einem mehrmonatigen Besuch in pakistanischen Flüchtlingslagern, wo sie sich in Gesprächen mit afghanischen Frauen und Mädchen von deren Erfahrungen unter der Talibanherrschaft erzählen ließ.
Bemerkenswert an diesem realistischen und spannenden Kinderroman ist das für uns völlig fremde Schulbild: Schule ist – für Mädchen – überhaupt nicht vorhanden. Und obwohl die Jungen zur Schule gehen dürfen, gibt es in Afghanistan eine erschreckend hohe Zahl auch männlicher Analphabeten. So wird den Leserinnen und Lesern die elementare Bedeutung von Schrift vor Augen geführt und gleichzeitig der unschätzbare Wert der Bildung in allen Kulturen der Welt bewusst gemacht.