[Sammelrezension „Gewalt in der Schule“] Mai, Manfred: Philipp darf nicht petzen / Maar, Paul: Jakob und der große Junge / Holm, Annika: Wehr dich Mathilda! / Welsh, Renate: Sonst bist du dran! / Oldenhave, Mirjam: Donna, ich und die Sache mit Tommi / Zanger, Jan de: Warum haben wir nichts gesagt? / Rees, Celia: Klassenspiel / Wildenhain, Michael: Wer sich nicht wehrt / Rhue, Morton: Ich knall euch ab!
Gewaltlos - Machtlos!?
von Daniela Fohrer, Stefanus Rost und Michael Jung (2004)
Schule und Gewalt – zwei Themen, die scheinbar immer enger miteinander verwachsen. Das fängt oft bei kleinen Sticheleien an und endet, in extremen Ausnahmefällen, in Mordanschlägen auf Mitschüler und Lehrer. Die Tragödie von Erfurt hat dem Thema eine furchtbare Aktualität gegeben. Doch sind es nicht Mord und Totschlag, die mehr und mehr zum Schulalltag gehören, sondern die vielen kleinen Hänseleien, Gemeinheiten, Attacken und Erpressungen.
Die Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt sich seit den 1980er-Jahren verstärkt mit diesem Thema. Sie stellt die Ohnmacht der Opfer dar und deren Not, sich Dritten zu offenbaren, bietet Erklärungs- und Lösungsansätze an. Die Auswahl der folgenden Bücher versucht, Titel mit pädagogischem Rezeptcharakter auszuklammern und auf literarisch komplexere Darstellungen zu verweisen. Diese nähern sich dem Thema aus verschiedenen Perspektiven, machen dadurch Gewaltentstehung und -wirkung als vielschichtige Dynamik begreiflich und rücken sogar die Faszination von Gewalt ins Blickfeld.
Zu den weniger komplexen Erzählungen gehören die Erstlesebücher „Philipp darf nicht petzen“ von Manfred Mai sowie „Jakob und der große Junge“ von Paul Maar. Für Leseanfänger oder zum Vorlesen stellen sie eine durchaus empfehlenswerte Lektüre dar, da beide behutsam auf das Thema Gewalt eingehen und mögliche Lösungen anbieten.
Auch das Kinderbuch „Wehr dich Mathilda!“ geht in eher schlichter Weise mit dem Thema um. Es schildert die Schikanen und Angriffe der Jungen eines 2. Schuljahres auf die fünf Mädchen der Klasse. Annika Holm will mit ihrer Erzählung den Opfern von Gewalt Mut machen, nicht alles über sich ergehen zu lassen und sich zu wehren – selbst wenn keine Unterstützung durch die Lehrperson vorhanden ist.
Renate Welsh entwirft in ihrem Roman „Sonst bist du dran!“ ein differenzierteres Bild. Sie zeigt, dass selbst in der Grundschule die zunehmende Gewaltbereitschaft nicht zu übersehen ist. Michel wird Zeuge, als ein paar Klassenkameraden Arnold mit dem Kopf in die Kloschüssel stecken und ihn später bis zum Nasenbluten ohrfeigen. Den Viertklässler quälen diese Erlebnisse: „Sein Bauch tat ihm weh, hinter seinen Augen war ein schrecklicher Druck, sein Hals brannte, seine Fußsohlen juckten.“ Am liebsten möchte er nicht mehr in die Schule, aus Angst, seinen Mitschülern ebenfalls zum Opfer zu fallen. Aber es kommt anders. Um Michel daran zu hindern, irgendetwas auszuplaudern, fordern die Jungen ihn auf, mitzumachen und drohen ihm: „Sonst bist du dran!“.
In einfacher Erzählstruktur, mit kurzen Sätzen und wenig wörtlicher Rede beschreibt Welsh Michels Gefühle und Ängste, zeigt ihn jedoch auch als Mittäter: „Plötzlich packte ihn eine ungeheure Wut. [...] Mit beiden Fäusten schlug er auf Arnold ein, bis Klaus in die Hände klatschte.“ Trotz der Vielschichtigkeit wahrt die Geschichte Konventionen des Kinderbuches durch Entlastungsmomente und Lösungsangebote, die für kindliche Leser erforderlich sind.
Die niederländische Autorin Mirjam Oldenhave zeigt in dem Buch „Donna, ich und die Sache mit Tommi“ zunächst, wie viel Spaß es machen kann, andere zu mobben. Die Freundinnen Donna und Lisa sind die beliebtesten Mädchen der Klasse. Sie stufen ihre Mitschüler in S, M und L ein: „stumpfsinnig, mittelmäßig und lässig.“ Natürlich geben sich die beiden ausschließlich mit den coolen L-Kindern ab. Doch nach einem einschneidenden Ereignis findet sich Lisa bei den ‚Losern’ wieder: Alles beginnt mit Aufträgen, die Lisa und Donna sich erteilen, um einander ihre Freundschaft zu beweisen. Lisa muss sich ein Augenbrauenpiercing machen lassen. Als sie aber zum Schein einen Tag mit dem „uncoolen“ Tommi gehen soll, packen sie das schlechte Gewissen. Tommi Zuneigung vorzuspielen, ist vielleicht doch zu gemein, oder? Das kann sie jedoch vor Donna schlecht zugeben. Hin- und hergerissen verstrickt sich Lisa immer tiefer in Halbwahrheiten und Lügen. Und hat sich schließlich völlig ins Abseits manövriert ...
Es scheint ungewöhnlich für ein Kinderbuch, dass das Phänomen Mobbing zunächst aus der (Ich-)Perspektive einer Täterin dargestellt wird, die sogar die Sympathien der Leserinnen und Leser auf ihrer Seite hat. Oldenhave präsentiert den Konventionsbruch auf typisch niederländische Weise: lässig, unbefangen, mit viel Wortwitz und einem präzisen Blick auf die aktuelle Kinderkultur. Die Autorin macht deutlich, dass jeder Opfer von Hänseleien und Mobbing werden kann: „Jeden kann’s erwischen, wirklich jeden.“ So liegt hier ein spannendes, amüsantes und zugleich zum Nachdenken anregendes Kinderbuch vor, das in den Niederlanden kurz nach Erscheinen den Preis „Vlag en Wimpel 2000“ erhielt.
Stärker als die Kinderbücher brechen die Jugendbücher herkömmliche Formen der Gewaltdarstellung auf und tendieren zu komplexeren Schilderungen: Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischen sich, befriedigende Lösungen von Konflikten werden seltener, Sympathieverteilungen weniger eindeutig und das Verlockende, Lustvolle von Gewaltausübung wird offener dargestellt.
Am wenigsten differenziert in diesem Sinn ist Jan de Zangers „Warum haben wir nichts gesagt?“. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Abitur wird ein Klassentreffen zu einem Strafprozess. Aus der Rückschau eines Erwachsenen erzählt ein ehemaliger Schüler die Geschichte seiner Klasse, die einen Mitschüler in den Selbstmord getrieben hat.
Die unaufhaltsame Entstehung einer Gewaltspirale zeichnet Celia Rees, die selber viele Jahre als Lehrerin in England tätig war, in ihrem Buch „Klassenspiel“: Seit Lauren in Alex’ Klasse geht, wird sie mehr und mehr gemobbt. Es beginnt durchaus alltäglich mit kleinen Sticheleien, bis Lauren sich mit immer neuen Schikanen konfrontiert sieht. Die Spirale gipfelt schon bald in extremer physischer und psychischer Gewalt. Alex kommt dies alles erschreckend bekannt vor: Schon einmal wurde in ihrer Klasse ein solches Spiel gespielt. Damals traf es den Schüler Michael Bailey, der bis an die Grenzen des Zumutbaren gequält wurde. War Alex damals noch selbst als Täterin beteiligt, widersteht sie nun dem Mitläufertum und gerät auf diese Weise ebenfalls in die Schussbahn der Peiniger.
Celia Rees verknüpft das in der Vergangenheit liegende Geschehen mit den aktuellen Erlebnissen und erzählt hauptsächlich aus Alex’ Sicht. Sie entwickelt einen Spannungsbogen, der sich erst zum Schluss des Buches auflöst. Die behandelten Themen wie Ablehnung von Fremdem und Neuem sowie die Demonstration von Stärke und Macht durch Ausgrenzung und Schikane ergeben eine brisante Mischung. Die beiden Protagonistinnen, Alex und Lauren, scheinen dabei dem Geschehen beinahe hoffnungslos ausgeliefert zu sein. Dennoch kommen sie relativ unbeschadet aus der Geschichte heraus – ein Happy-End, das angesichts der Dramatik der vorangegangenen Ereignisse ein wenig bemüht wirkt.
In Michael Wildenhains erstem Jugendroman „Wer sich nicht wehrt“ wird scheinbar klar: „Wer nicht zurückschlägt, wird zum Opfer“. Doch ist dies ein Gesetz des Überlebens oder nur der Einstieg in einen Teufelskreis der Gewalt? Der blinde (Fremden-)Hass zweier Brüder drängt eine Schulklasse immer tiefer in brutale Machtkämpfe hinein. Gewalt und Gegengewalt führen zu einem Konflikt, in dem die Ignoranz der Lehrerin ebenso absurd erscheint wie die gewaltfreie Haltung des Sonderlings Viktor. Schon bald verbreitet das menschenverachtende Denken und Handeln der „Glatzen“ nicht nur Angst und Schrecken, sondern übt auch eine gewisse Faszination auf Mitschüler aus. Diese werden zu Mitläufern und Mittätern.
Solche Erfahrungen macht auch der namenlose Ich-Erzähler. Gefühle von Wehrlosigkeit und lähmenden Angst ziehen ihn bedrohlich weit in die Welt der Täter hinein. Nur die Liebe zu einer türkischen Mitschülerin und die wachsende Abscheu vor den demütigenden Machtspielen der zwei Brüder geben ihm schließlich die Kraft, sich zu wehren und zurückzuschlagen. Doch was zunächst wie eine Befreiung wirkt, ist nur die Fortsetzung der Gewalt.
Wildenhain konfrontiert die Leserinnen und Leser mit scheinbar willkürlicher Brutalität, der nicht mit Worten beizukommen ist. Ein kurzer Blick in die Welt der Brüder offenbart zwar, dass die Täter selbst auch Opfer sind. Allerdings bleiben die Motive ihres Verhaltens zu schemenhaft, als dass man Verständnis für sie aufbringen könnte.
Einen außergewöhnlichen Einblick in die Täterwelt bietet dagegen Morton Rhue in seiner Doku-Fiktion „Ich knall euch ab!“. Unter der erniedrigenden Ausgrenzung durch eine elitäre Footballclique zerbricht das Selbstwertgefühl von Gary und Brendan, zweier Teenager in einer amerikanischen High School. Ihre aufgestaute Frustration entlädt sich in einem Amoklauf mit schweren Waffen. Nur ein glücklicher Zufall und das entschlossene Eingreifen eines Schülers können verhindern, dass sie ihre Lehrer und Mitschüler mit in den Tod nehmen.
In einem fiktiven Vorwort und der abschließenden „Nachbemerkung“ meldet sich Garys Schwester zu Wort. Beide Teile bilden wiederum den Rahmen für eine Montage weiterer Stimmen, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln zum Geschehen und zur Welt der Täter Stellung nehmen: Gary und Brendans Abschiedsbriefe und Chats sowie Auszüge aus Gesprächsprotokollen mit den Opfern dokumentieren eine Entwicklung, deren dramatisches Ende von Anfang an bekannt ist. Dabei ist der Erzähler lediglich Arrangeur der Textteile und überlässt es dem Leser, im ‚Stimmengewirr’ der Mitschüler, Lehrer, Familienmitglieder und Nachbarn sowohl nach Motiven der Täter als auch nach der Mitverantwortung des Umfeldes zu suchen. Auch bleibt es dem Leser vorbehalten, die zeitlich grob sortierten Puzzelteile zu einem dynamischen Bild zusammenzufügen.
Die authentisch wirkenden Dokumente ermöglichen einen facettenreichen und erschütternden Blick auf ein kompliziertes Zusammenspiel von Gewalt, Macht, Unterdrückung und Resignation. Wie schon in seinem Erfolgsroman „Die Welle“ versteht es der Autor, die Erwartungen und Sympathien der Leserinnen und Leser zu verwirren. Im Gegensatz zu oft einseitigen Darstellungen von Gewalttaten in der Öffentlichkeit wird man hier gezwungen, hinter die Kulissen einer tragischen Entwicklung zu schauen und Täter- und Opferrollen immer wieder neu zu definieren.