Baltscheit, Martin (Text und Illustration): Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte
Briefe gut, alles gut!
von Jenny Bodenbender (2002)
Rundum zufrieden war der Löwe mit sich und der Welt. Er konnte brüllen und Zähne zeigen. Und mehr brauchte man als der König der Tiere nicht. Das dachte er zumindest so lange, bis er die schöne Löwin sah, die in einem Buch vertieft unter einem Baum ruhte. „Der Löwe ging los und wollte sie küssen.“ Doch plötzlich wird ihm etwas klar: „Eine Löwin, die liest, ist eine Dame. Und einer Dame schreibt man Briefe. Bevor man sie küsst.“ Genau hier liegt das Problem, denn leider kann der Löwe weder lesen noch schreiben.
Aber Lesen- und Schreibenlernen, das weiß jeder aus Erfahrung, ist mit viel Mühe und Arbeit verbunden. So denkt auch der wunderbar herrschsüchtige und patriarchale König der Tiere. Warum soll also nicht einer seiner schreibkundigen Untertanen diese Aufgabe übernehmen und den Liebesbrief an die Angebetete schreiben?
Doch das Unternehmen gestaltet sich schwieriger als erwartet. Keines der anderen Tiere kann wirklich in die Rolle des Löwen schlüpfen und wahrhaft königliche Einladungen schreiben. So formuliert der Affe: „Liebste Freundin, wollen Sie mit mir auf die Bäume klettern? Ich hab auch Bananen. Total lecker! Gruß Löwe.“ Nein – so etwas ist natürlich unmöglich. Zunehmend verzweifelter und wütender wird der Löwe, nachdem ihm auch das Nilpferd, der Mistkäfer und das Krokodil, das den Brief mit samt der Giraffe verschlingt, nicht wirklich weiterhelfen können. Welche Löwendame will schon nach Algen tauchen, im Dung graben oder auf einen Rest Giraffe eingeladen werden?
Die letzte Hoffnung des Löwen ist der schlaue Geier: „Liebste Freundin, ich bin der Löwe und ich bin der Boss hier. Ich will dich kennen lernen!“ Der Löwe nickt zufrieden mit dem Kopf. „Ja, so hätte er das auch gesagt.“ Doch natürlich kann auch der Geier nicht ganz aus seiner Haut heraus und lädt die Löwin des Weiteren zu einem Flug über den Dschungel und einer köstlichen Aasmahlzeit ein.
Für sein Cover hat sich Martin Baltscheit, Autor und Illustrator, etwas Originelles einfallen lassen: Ganz der Thematik entsprechend bietet sich das Buch als Briefsendung dar, ausgestattet mit Briefmarken, Poststempel und Absender erscheint sogar der Buchtitel in Form einer Adresse. Auch die Cover-Innenseiten sind voller Briefmarken, die auf einzelne Episoden der Geschichte anspielen.
Innerhalb des Buches wechseln sich Text- und Bildseiten nahezu durchgehend ab. Die frech-witzigen Bilder ergänzen und erweitern den Text, indem sie die Geschehnisse und Figuren nicht nur darstellen, sondern darüber hinaus karikieren. So werden zum Beispiel die Briefvorschläge der Untertanen graphisch umgesetzt und man bekommt ein Bild davon, wie es aussieht, wenn ein Löwe im Mist gräbt, in den Lianen hängend eine Banane isst oder mit einem Schnorchel ausgerüstet nach Algen taucht. Der bekannte Illustrator schafft es so, die Komik seiner Geschichte pointiert ins Bild zu setzen.
Kindern fällt es leicht, anhand der ausdrucksstarken Acrylbilder die Gefühlslage des Löwen nachzuvollziehen. Zunächst schlägt dieser in seiner Verzweiflung nur die Pranken über dem Kopf zusammen, doch schon bald fühlt er sich so missverstanden, dass seine Zunge regelrecht zu beben beginnt, ihm die Haare zu Berge stehen und er schließlich sogar vor lauter Wut grün anläuft. Durch die besondere Textgestaltung wird die bildliche Darstellung der Emotionen des Löwen noch unterstützt: Entsprechend der Lautstärke variiert nicht nur die Schriftgröße, sondern auch die Farbe der Schrift spiegelt seine Stimmung wider. So erscheint der sonst in schwarzer Farbe geschriebene Text plötzlich in Rot und unterstreicht die Wut des Löwen. In der ärgsten Not füllt sein Gebrüll sogar eine ganze Doppelseite.
Und das ist auch der Wendepunkt in der Geschichte. Nachdem keiner der bisher entworfenen Briefe dem königlichen Geschmack zusagt, ist der Löwe der völligen Verzweiflung nahe. Am Ende seiner Geduld brüllt er seine wunderschöne Liebeserklärung mit mächtiger Löwenstimme in die Savanne hinaus: „Ich würde ihr schreiben, wie schön sie ist. Ich würde ihr schreiben, wie gerne ich sie sehen würde. Einfach nur zusammen sein. Einfach unter einem Baum liegen. Einfach in den Abendhimmel gucken!“ All die Dinge, die er schreiben würde, wenn er denn könnte. Aber der Löwe kann ja nicht. Und so brüllt er, bis er ganz grün im Gesicht wird. „Warum haben Sie denn nicht selbst geschrieben?“ möchte da auf einmal die schöne Löwin wissen, die das Geschrei des Herrschers gehört hat. Da muss der Löwe ihr zähneknirschend gestehen, dass er gar nicht schreiben kann. Doch die Löwin lächelt nur und nimmt ihn mit. Und sie beginnen mit „A wie Anfang“.
Mit viel Wortwitz gestaltet Baltscheit seine Geschichte vom analphabetischen Löwen. Durch das immer wiederkehrende Erzählmuster des Aufsuchens eines geeigneten Briefeschreibers und dem darauffolgenden Misslingen ist die Geschichte in ihrer Komik gerade auch für jüngere Kinder leicht verständlich. Martin Baltscheit schafft es, den Leser durch seine lustigen Zeichnungen sowie den kindgerechten und witzigen Ton des Buches gleichermaßen als Illustrator und Autor zu überzeugen. An keiner Stelle kommt das Gefühl auf, Baltscheit erhebe hier seinen pädagogischen Zeigefinger, um an die Wichtigkeit der Kulturtechnik Nummer Eins zu erinnern. Im Gegenteil, mit viel Witz und Ironie wird in erster Linie eine Liebesgeschichte erzählt. Verbunden wird diese indirekt und für Kinder kaum sichtbar mit einem lesepädagogischen Aspekt. Denn letztlich muss der Löwe einsehen, dass es doch besser ist, sich selbst ausdrücken zu können und sich in seiner Individualität zu zeigen, als die Arbeit an andere zu verteilen. Und wenn man damit auch noch der Dame seines Herzens näher kommen kann ...