Veldkamp, Tjibbe (Text) und Philip Hopman (Illustration): 22 kecke Kinder
Arme Waisen?
von Traudl Bünger (2000)
Waisen sind einsam, bedauernswert, unglücklich und werden von kaltherzigen Aufsehern terrorisiert. Mit dieser Vorstellung räumen die Niederländer Tjibbe Veldkamp und Philip Hopman in ihrem jüngsten gemeinsamen Bilderbuch gründlich auf.
Irgendwo im Nirgendwo steht eine alte Villa, die 22 kecken Waisen fantastische Möglichkeiten bietet, ihre Lieblingsspiele zu spielen. Dabei handelt es sich keineswegs um Verstecken oder Fangen. Diese Kinder verbringen ihre Freizeit genauso fantasievoll wie anspielungsreich: Superman probt den Sprung vom Balkon, Wilhelm Tell den Apfelschuss, Aschenputtel füttert die Tauben, Tarzan erklimmt die Stuckfassade und Pippi Langstrumpf stöbert im Gebüsch. Leider wird dieses Idyll mit der Ankunft einer zwar keineswegs kaltherzigen, aber überbesorgten Aufseherin zerstört: „Passt doch auf! Das ist gefährlich! Ihr gehört ins Bett!“ Und dahin werden die 22 Kinder mit nur einem einzigen Griff verbannt. Dass die Langeweile aber nur von kurzer Dauer ist und den lieben Kleinen bald ein Trick einfällt, um die Erzieherin mit ihrer Spiellust anzustecken, darf bei derartig kecken und autarken Kindern nicht verwundern ...
Philip Hopman, in den Niederlanden bereits für originelle Illustrationen bekannt, legt in diesem Buch viel Wert auf Stimmungen. Die alte Villa und ihre Umgebung sind in blassen Grau-Grün-Tönen gehalten. In Kombination mit gezielten Licht-Schatten-Spielen entsteht so eine entrückte, beinah mystische Atmosphäre – im Kontrast dazu stehen die bunten, quirligen Kinder. Mit verschiedenen Einstellungen dramatisiert der Illustrator die im Text erzählte Geschichte. So wird dem Betrachter das anfängliche Spielidyll als Totale präsentiert, die fürchterliche Langeweile im Schlafsaal aus der Vogelperspektive. Mit kindlichen Ängsten spielt Hopman, wenn er die riesenhafte graue Aufseherin – mit elf wehrlosen Kindern in jedem Arm – aus der Froschperspektive gestaltet.
Im Vergleich zu diesen bestechenden Bildern hält sich der Text zurück und ergänzt die Bildersprache nur, wo nötig. Hopman benutzt Aquarelltechnik, teilweise Nass-in-Nass, und skizziert die Konturen sparsam mit Tusche. Diese Technik erlaubt keine allzu detaillierte Federführung, dennoch ist die Individualität jeden Kindes erkennbar, wenn man genau hinsieht. Eine gute Beobachtungsgabe benötigt auch der erwachsene Mitleser, wenn er die zahllosen Zitate und Anspielungen würdigen will. So lesen die gelangweilten Kinder in ihren Betten betrübliche Lektüre wie „Oliver Twist“ oder „Les Miserables“, ein Oberaufseher erinnert stark an Hercule Poirot und die Freiheitsstatue dient als Treppendekoration. Ein verheißungsvolles Symbol für die Zukunft von Spiel und Freizeit im Waisenhaus, das Kinder entschlüsseln können, sind die beidseitig gehissten Kinderflaggen im letzten Bild.