Sammelrezension "Zeit als Thema in der KJL"
Ende, Michael: Momo / Nilsson, Per (Text) und Markus Grolik (Illustration): Da schlägt's dreizehn / Waldis, Angelika: Tita und Leo / Waldis, Angelika: Kurz vor morgen
Ach, du meine Zeit!
von Bettina Hurrelmann und Barbara Quadflieg (2000)
Bücher, die Heranwachsende zu kritischer Nachdenklichkeit gegenüber Zeitdiktaten anregen können und das naive Erleben von Zeit und Gegenwart irritieren, sind derzeit rar auf dem kinderliterarischen Markt. Es lohnt sich daher, an „Momo“ zu erinnern, Michael Endes Protest gegen die kapitalistische Enteignung von Zeit. Der Märchenroman lässt schon Kinder erfahren, dass Zeit eben keine materiell-kalkulierbare Größe ist, sondern eine unschätzbare und unveräußerliche Gabe. Menschliche Lebenszeit kann erfüllt oder leer, geglückt oder unwiederbringlich vertan sein. Momos Kampf gegen die grauen Herren von der Zeitsparkasse ist ein Kampf gegen die Zwänge der Rationalisierung und Verwertung – eine Plädoyer für eine widerständige, selbstbestimmte, sinnhafte Gestaltung von Zeit. Vergeblich versucht Momo, ihren Freunden zu erklären, dass sie, indem sie Zeit zu sparen meinen, um Glück und Freundschaft betrogen werden. Genau auf diese Verblendung haben es die grauen Herren angelegt, um sich in den Besitz aller Zeit bringen zu können. Dass der Coup nicht gelingt, sondern Momo die Gefahr abwenden kann, ist märchenhafte Fiktion – aber zugleich auch mehr als dies: Denn das Gleichnis macht deutlich, dass jeder und jede für sich selbst versuchen muss, dem vermeintlichen Zeitgewinn die Qualität der eigenen Zeit entgegenzusetzen.
Im Vergleich zu Endes kritischem, zeitphilosophischem Kinderroman kommt Per Nilssons „Da schlägt’s dreizehn“ sehr viel harmloser daher. Und doch erweist sich die Geschichte um Hannas merkwürdige neue Armbanduhr als ein zum Nachdenken reizendes, hintergründiges Verwirrspiel mit der sozial vereinbarten Messung von Zeit. Wie sehr unsere Zeiterfahrung von dem abhängt, was die Uhr vorgibt, lässt sich an der Geschichte vergnüglich verfolgen. Als Grundschulkind weiß Hanna, wann die Schule anfängt, wann der Papa sie vom Hort abholt und wann ihre Lieblings-Fernsehserie kommt. Und sie rechnet fest damit, dass ihre Oma ihr zum 9. Geburtstag die erste Armbanduhr schenkt. Es kommt aber anders. Ein geheimnisvoller Herr im schwarzen Umhang gibt ihr schon eine Woche vorher eine gebrauchte Uhr. Irgendwas stimmt damit nicht – Hanna weiß nur noch nicht, was. Vielleicht begreifen es die Leserinnen und Leser schneller als die kleine Protagonistin, die vom Ablauf einer turbulenten Schulwoche erzählt: Die Uhr zählt nämlich dreizehn statt zwölf Stunden und da sich Hanna als selbstständiges Kind ganz auf die eigene Uhr verlässt, geraten ihre Zeiten und die der anderen immer mehr in Widerspruch. Am Dienstag soll sie schon um vier Uhr aufstehen, am Mittwoch gar um zwei. Das tut sie natürlich nicht und verpasst die Schule, während die Eltern merkwürdigerweise schon um vier Uhr nachmittags schlafen gehen. Also macht sie noch einen Gang durch die Stadt: absolute Dunkelheit, kein Kind mehr draußen, stattdessen ein freundlicher Penner im Park, der ihr seinen tätowierten Bauch zeigt. Die Geschichte betont in Text und Illustrationen die Skurrilitäten, die durch die Zeitverschiebungen entstehen, und sie irritiert nicht wenig. Ist man ein bisschen asozial, wenn man seiner eigenen Zeit folgt? Oder sind die anderen verrückt? Froh ist Hanna auf jeden Fall, dass ihre ‚Eigenzeit’ am Sonntag mit der Zeit der anderen wieder übereinstimmt und Omas Geburtstagsgeschenk dem Spuk ein Ende macht.
Von der Duplizität der Zeitmessungen führt das folgende Kinderbuch zur Duplizität der Erfahrung historischer Zeiten: „Tita und Leo“, eine fantastische Erzählung von Angelika Waldis, lässt zwei Kinder aufeinander treffen, deren Lebenszeit ein Jahrhundert auseinander liegt. Eine verborgene Tür im Keller eines Bauernhauses ist die Schleuse für ihre wechselseitige Zeitreise: Sie führt Tita, die mit ihren Eltern Urlaub auf dem Land macht, zurück ins Jahr 1899 – Leo dagegen, der auf dem Bauernhof lebt und arbeitet, kann so in den Sommer 1999 kommen. Bei ihrer ersten Begegnung hält Leo Tita für total verrückt, weil sie ihm unbekannte Wörter wie „Jeans“, „Nagellack“ und „Teigmixer“ benutzt. Für Tita andererseits ist Leo nur ein zurückgebliebener Dorf junge. Erst als er ihr erzählt, dass kürzlich der Reißverschluss erfunden worden ist, begreift Tita: Sie sind hundert Jahre voneinander entfernt! Auf die anfängliche Fassungslosigkeit der beiden folgen Freundschaft und Liebe. Wenn auch das Staunen bleibt. Tita muss in Leos Schule lernen, wie man sich benimmt. Leo dagegen wird in Titas Welt beinahe von einem Auto überfahren und gerät an Leute, die ihm „Stoff“ verkaufen wollen, obwohl er gar nicht nähen kann! Durch viele, häufig komische Dialoge zwischen den Kindern, die lebendige Darstellung von Titas Eindrücken und durch Erklärungen, mit denen die Eltern Titas Fragen beantworten, gibt die Autorin Einblick in die Lebensumstände um die vorige Jahrhundertwende, nicht zuletzt in die sozialen Probleme jener Zeit: Da ist Leos Mutter, die an einer Lungenentzündung zu sterben droht, da ist der Ladenjunge Balz, der als uneheliches Kind so gut wie rechtlos ist. Anlass, die heutige Zeit kritisch zu sehen, geben in dieser Geschichte nicht nur die fortgeschrittene Umweltverschmutzung, sondern auch der Umgang mit Flüchtlingen und die zunehmende Arbeitslosigkeit, von der auch Titas Vater betroffen ist. Die Autorin nutzt die Idee der Zeitreise, indem sie die beiden Kinder sich wechselseitig helfen lässt: Tita kann das für Leos Mutter lebensnotwendige Medikament besorgen und löst mit ihrem Taschenrechner Leos Matheaufgaben blitzschnell. Leo revanchiert sich mit Briefmarken für Titas Vater, die inzwischen alt und kostbar sind. Die Erzählung zeigt leicht und unprätentiös – wenn auch nicht ganz ohne Klischees – den Wandel von Wertvorstellungen: Während Leo nicht begreifen kann, dass Tita ungetauft ist, reagiert diese befremdet auf die damalige Kaiserverehrung. Nur die Zuneigung der beiden wirkt eigentümlich zeitenthoben ...
Dass es neben der historischen, scheinbar gleichmäßig fortschreitenden Zeit Unterschiede in der individuellen Zeitwahrnehmung gibt, stellt Irma Krauß in ihrem Jugendroman „Kurz vor morgen“ eindrucksvoll dar. Mit ihrem Besuch hat die 14-jährige Senta ihren Urgroßvater, den sie bislang nicht kannte, „aus seinem Zeitstillstand aufgeweckt wie aus einem Winterschlaf“. Der Kalender des 101-jährigen Herrn zeigt den 1.Juni 1946 an, das Sterbedatum seiner Frau. Seither verbrachte er sein Leben wie in einer Warteschleife. In Erwartung seiner ,lieben Frau’ vollzog er Tag für Tag dieselben Tätigkeiten zur Pflege von Haus und Garten. Es gab keine Veränderungen, die ihn die fortschreitende Zeit wahrnehmen ließen. Nun hält der Uropa das Mädchen für seine endlich zurückgekehrte Frau, die auch Senta hieß! So wird Sentas Besuch während ihres Landschulheimaufenthaltes im verschlafenen Dorf zu einer Zeitreise in die Nachkriegszeit: Uropa präsentiert das Badezimmer und den elektrischen Kocher als neumodischen Komfort und unterstellt seiner Urenkelin Wünsche und Sorgen, die typisch für eine vom Krieg gezeichnete Frau sind. Vor allem J aber irritiert und fasziniert er sie mit seiner Langsamkeit: „Wer sieht schon beim Gehen jeden Kieselstein glitzern, tröstete ich mich, als wir im Schneckentempo durch den Garten trotteten; wer zählt hunderte von gelben Kletterrosen nur so im Vorüberstreifen?“ Der alte Herr hat nie eine Uhr benötigt, zeigen ihm doch Sonne und Hühner, wann Zeit zum Aufstehen und Schlafengehen ist. Obwohl Senta Angst hat vor der Verantwortung, die sie damit auf sich nimmt, kehrt sie in den Sommerferien zu ihrem Uropa zurück, um das Missverständnis schonend aufzuklären. Sie hat den alten Mann lieb gewonnen und ist beeindruckt von seiner Liebe und Treue. Das Mädchen erfährt hier eine stärkere Familienbindung als bei ihren geschiedenen Eltern. Nach den Sommerferien wechselt sie sogar die Schule, um dem 101-Jährigen Schritt für Schritt die Jetzt-Zeit nahe zu bringen: Sie macht ihm begreiflich, wie alt er ist und dass die Jahrtausendwende kurz bevorsteht. Schließlich besucht er das Grab seiner verstorbenen Frau. Gleichzeitig aber altert er viel stärker als in den Jahren, wo ihn das Warten am Leben gehalten hat. Er stirbt in der Silvesternacht 1999. Der Roman bietet jungen Leserinnen und Lesern einen Rückblick auf das vergangene Jahrhundert, indem er Lebensbedingungen und Wertvorstellungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration mit der Lebenswelt heutiger Jugendlicher konfrontiert. Dies geschieht gleichsam in Nahaufnahme, authentisch und anschaulich – wenn auch leider unter weitgehender Ausklammerung der politischen Zeitgeschichte. Es ist eine Zeitreise in eine heute schon fremde Alltagskultur, die die Veränderung von Wohnen und Arbeiten, Lebensrhythmus und Zeiterfahrung lebendig vor Augen stellt. Zugleich lässt die Geschichte teilnehmen am Reifeprozess der jugendlichen Ich-Erzählerin, die freiwillig Verantwortung für einen Menschen übernimmt, der ‚in einer anderen Zeit lebt’. Dem Mädchen wird durch diese Erfahrung die historische Bedingtheit des eigenen Lebens deutlich – kurz vor dem Erwachsensein.