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Wie geht das Leben nach dem Krieg weitergehen?

Von Julie Bruns, Ellen Fröhlich, Alissa Herrmann, Vanessa Weindel (2022)

Es ist das Jahr 1945 in Hamburg. In einem von Bomben zerstörten Haus versteckt sich Jakob und ist hungrig, ängstlich und vor allem: unwissend. Der 2. Weltkrieg ist seit einigen Tagen vorbei, doch das weiß er nicht. Er hat die Ruine seit Wochen nicht verlassen, aus Angst wie seine jüdische Mutter deportiert zu werden. Herr Hoffmann, der ihm heimlich Essen vorbeibringt, ist nun zwei Nächte hintereinander nicht aufgetaucht und Jakob fürchtet sich vor dem Moment, an dem er sich selbst auf die Suche nach Essen machen muss. Nicht weit von Jakobs Ruine lebt der 14-jährige Hermann, ein ehemaliger HJ-Führer. Täglich muss er seinen Vater zur Toilette tragen, da dieser seine Beine im Krieg verloren hat. Um den verzweifelten Wut-Tiraden seines Vaters zeitweise zu entkommen, spielt er Fußball mit den Jungen aus der Nachbarschaft. Traute, ein 14-jähriges Mädchen, lässt er aber nicht mitspielen. Sie lebt und arbeitet mit ihrer eigenen und einer einquartierten Familie in einem Haus mit Bäckerei und vermisst die Schule und ihre Freund*innen, die im Krieg verschollen oder weggezogen sind. Auf ihrer Suche nach Zugehörigkeit kreuzen sich Trautes Wege mit denen von Jakob, und auch Hermann wird im Laufe der Geschichte ein Teil dieser Verflechtung.

Auf 177 Seiten gelingt es Kirsten Boie - durch einen beständigen Perspektivwechsel zwischen den drei Jugendlichen-  Spannung und Leser*innen-Interesse aufrechtzuerhalten. Eine leicht verständliche Sprache und ein bildhafter Schreibstil vermitteln die Geschehnisse nicht verharmlosend, sondern authentisch. Die anschaulich beschriebenen Innenwelten der Protagonist*innen machen die Gefühlszustände nachvollziehbar und lassen die Leser*innen mitfühlen. Sie ermöglichen es, die brutale Realität durch die Augen der Jugendlichen zu sehen. Die Geschichte lässt die Leser*innen in das Geschehen eintauchen und die Tragik der Nachkriegszeit nachempfinden. Dabei steigert sich das Erzähltempo im Laufe der Handlung, sodass sich die Ereignisse auf den letzten Seiten nahezu überschlagen, um dann in einem versöhnenden Ende zu münden.

Kirsten Boie ist eine der renommiertesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie gewann bereits zahlreiche Auszeichnungen, beispielsweise den Sonderpreis des Deutschen Literaturpreises für ihr Gesamtwerk. Wie ihre vorangegangenen Werke „Ringel, Rangel, Rosen” und „Dunkelnacht”, nimmt auch dieser Jugendroman die Thematiken des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen auf. Da es sich dabei um ein bedrückendes und sensibles Thema handelt, ist es ratsam, Raum für Reflexion und Austausch zu schaffen. Die Gefühle von Angst und Wut, sowie der Umgang mit der Realität sind nicht nur für die Protagonist*innen emotional herausfordernd, sondern sie können sich auch auf junge Leser*innen übertragen. Vor dem ersten Lesen ist eine Trigger-Warnung zu den Themen Mord, Tod und Suizid zu formulieren. Aus diesem Grund ist der Roman erst für Kinder ab 12 Jahren zu empfehlen. Unterstützend bietet das bucheigene Glossar eine Möglichkeit für die Leser*innen, essentielle Begriffe und Ereignisse der Lektüre in den geschichtlichen Kontext einzuordnen und zum Verständnis beizutragen.

Bibliographische Angaben:
Boie, Kirsten
Heul doch nicht, du lebst ja noch
Hamburg: Verlag Oetinger (2022)
177 Seiten

Textprobe:  “Dann wird Jakob selbst sehen müssen, woher er etwas zu essen kriegt. Dann wird er sich hinauswagen müssen aus seinem Wigwam, zum ersten Mal seit wie langer Zeit? Lange. Die Striche helfen ihm nicht mehr und es ist auch egal. Draußen ist doch immer noch alles, wie es war. Und er darf nicht drüber nachdenken, was geschieht, wenn sie ihn erwischen. Ohne etwas zu essen ist der Tod ihm gewiss. Wenn sie ihn finden, vielleicht auch.” (Seite 7)