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Titelbild
Gestel, Peter van:
Wintereis
Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
Weinheim: Beltz 2008
336 Seiten
€ 17,90
Übergangsbuch ab 12 Jahren

Gestel, Peter van: Wintereis

Schnee von früher, der nicht schmelzen will

von Sylvia Kottmann (2008)

„Ich möchte meine Geschichte erzählen – die Geschichte von Zwaan und mir und von Bet und mir und von der Kälte und dem Wintereis in Amsterdam und vom Tauwetter, das allem ein Ende machte. Wie fängt man eine Geschichte an? Und wem kann man sie überhaupt erzählen?“

Mit diesen Worten beginnt Thomas, der zwölfjährige Ich-Erzähler in Peter Van Gestels Roman „Wintereis“, seine Geschichte. Es ist eine Geschichte über den Nachkriegswinter 1947, einen nicht enden wollenden kalten Winter, der den Abschied von Thomas’ Kindheit einläutet.

Zusammen mit seinem Vater lebt der Junge im Zentrum Amsterdams zwischen den Straßen und Grachten der Weteringschans. Seit seine Mutter kurz nach dem Krieg an Typhus verstorben ist, schafft sein Vater es nicht mehr, für ihn zu sorgen. Wie gefangen ist er von der Trauer um seine Frau. Thomas würde verwahrlosen, wäre da nicht seine fürsorgliche Tante Fie, die sich um ihn kümmert. Halb Kind, halb Jugendlicher, vergräbt Thomas seinen Kummer und hat in seiner Verlustsituation keinen Blick für das Leid seiner Mitmenschen. Gelähmt vom Schrecken des Krieges, können die Erwachsenen Thomas nicht helfen, seine Fragen über den Krieg zu beantworten und ihm ihr Leid begreiflich zu machen.

Thomas lernt den klugen, aus wohlhabendem Hause stammenden Piet Zwaan kennen, der neu in seiner Klasse ist. Piet ist Jude und hat fünf Jahre lang versteckt auf dem Dachboden von Freunden seiner Eltern gelebt. Zusammen mit seiner halbjüdischen Cousine Bet, mit der er nun bei deren Mutter wohnt, hat er lange auf die Rückkehr der Eltern aus den Konzentrationslagern gewartet. Sie sind nicht wieder zurückgekommen.

Langsam kommen sich die drei Kinder näher, eine zaghafte Freundschaft entwickelt sich. Als Thomas für einige Wochen in das herrschaftliche Haus zu Bet und Piet ziehen darf, weil sein Vater eine Arbeit in Deutschland annimmt, werden die Kinder vertrauter miteinander. Obwohl sie lernen mussten, ihre Gefühle niemals zu zeigen, schaffen sie es, die Eisdecke des Schweigens langsam zu brechen. Sie beginnen, von früher zu erzählen.

Durch Bet und Piet, die noch viel schlimmere Erfahrungen gemacht haben als er selbst, entwickelt Thomas langsam ein Verständnis für das Leid seiner Mitmenschen und kann seine eigenen Erfahrungen relativieren. Für ihn werden Piet und dessen zwei Jahre ältere Cousine zum Mittelpunkt seines Lebens.

Die Kinder erleben in diesen Wochen schöne, sehr intensive Momente miteinander, in denen auch Bet und Piet noch einmal Kind sein dürfen und das ihnen Widerfahrene kurzzeitig vergessen. Doch diese Momente sind zerbrechlich, nahezu unwirklich. Schnell werden die Kinder wieder von der Realität heimgesucht. Zu einer wirklichen Freundschaft, wie Thomas sie sich so sehnlich wünscht, sind Piet und Bet nicht fähig. Zu schwer lastet die Erinnerung auf ihren Schultern, eine Leidenszeit, die ihnen brutal die Kindheit genommen hat.

Als das Wintereis endlich geschmolzen ist, trennen sich die Wege der drei. Piet zieht zu seinem Onkel nach Amerika. Mit Amsterdam verbindet er zu viele schlechte Erinnerungen. Die anderen beiden bleiben zurück. Bet wohnt fortan bei ihrer Oma und Thomas wieder bei seinem Vater, der endlich aus Deutschland zurückgekehrt ist.

Unter den vielen Jugendbüchern, die bereits rund um das Thema NS-Zeit erschienen sind, ist van Gestels „Wintereis“ sicherlich in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Der niederländische Autor braucht keine umfassenden historischen Informationen, um seine Geschichte zu erzählen. Wahrheiten kommen nur scheibchenweise ans Licht oder werden lediglich angedeutet. Nicht die Verbrechen jener Zeit sind Hauptthema des Buches, sondern vielmehr ihre Folgen für das Leben der Hauptfiguren, die den Krieg zumindest nach außen hin unversehrt überlebt haben. Wie etwa Piet, wenn er erzählt: „Niemand hat mir wehgetan. Ich hatte nicht zugeschaut, wie anderen wehgetan wurde. Trotzdem war ich anders als die Leute, die im Krieg in Amerika waren, in Sicherheit.“ Meisterhaft versteht es van Gestel, dem Leser die Auswirkungen der Nazibesetzung - vor Allem durch das Unausgesprochene - nahe zu bringen.

Trotz der geschichtlichen Situierung in der Nachkriegszeit ist „Wintereis“ weniger ein historischer Roman, denn ein psychologischer Entwicklungsroman, der dem Leser auf hochsubtile Weise das Gefühlsleben der Romanfiguren und deren Entwicklung nahebringt. Diese Entwicklung macht die Figuren so überzeugend. Und sie ist es auch, die am Ende einen Moment der Hoffnung bestehen lässt, denn, obwohl Thomas wieder eine schmerzliche Verlusterfahrung machen muss, so hat ihn die mit Piet und Bet verbrachte Zeit doch aus seiner ichbezogenen Weltsicht befreit, ihn erfahrener und reifer gemacht.

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal von „Wintereis“ ist van Gestels raffinierte Erzähltechnik. Der Autor stellt die chronologische Ordnung der Geschehnisse um, sodass Thomas am Anfang und Ende der Geschichte die erzählten Ereignisse selber erlebt und im Hauptteil die Ereignisse rückwendend aus der Erinnerung darstellt. Thomas, um einige Erkenntnisse reicher geworden, erzählt somit aus der Perspektive eines Erfahreneren, Reiferen, als er zum Zeitpunkt der Handlung war. Dem Leser werden Einsichten und Gedanken zu Teil, die Thomas zum eigentlichen Zeitpunkt des Geschehens gar nicht hätte mitteilen können. Auch die Stimmung in „Wintereis“ wird durch dieses rückblickende Erzählen beeinflusst. Mit einer nüchternen, manchmal auch kantigen Sprache schafft es van Gestel, die Versehrtheit der Kinder darzustellen, ohne zu melancholisch und sentimental zu werden. Die humorvollen und munteren Dialoge tragen ihr Übriges dazu bei.

Van Gestels „Wintereis“ ist ein Unikat unter den Jugendbüchern, die sich mit der NS-Zeit beschäftigen, und sicherlich nicht nur wegen seiner Vielschichtigkeit ausgesprochen empfehlenswert.

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