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Titelbild
Almond, David:
Lehmann oder die Versuchung
Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther
München: Hanser 2007
237 S.
€ 14,90
Jugendbuch ab 12 J.

Almond, David: Lehmann oder die Versuchung

Die Geister, die ich rief

von Alexander Herd (2008)

„Wenn ich sage, du siehst, wie es sich bewegt, dann wirst du sehen, wie es sich bewegt.“ Diese Aufforderung und die Tatsache, dass sich eine leblose Lehmmasse tatsächlich zu bewegen beginnt, treffen Davie wie ein Schlag. Sie verändern nicht nur das bis dahin ganz normale Leben des heranwachsenden Jungen, sondern lassen ihn auch an sich selbst, an seiner Wahrnehmungskraft und der Wirklichkeit zweifeln.

Davie, der einerseits täglich mit Gott, seinem Glauben und der Kirche lebt und andererseits die ganz normalen kleinen Laster eines Jugendlichen auslebt –sich prügelt, heimlich raucht und trinkt –, macht auf ungewollte Weise Bekanntschaft mit dem geheimnisvollen Stephen Rose. Dieser taucht eines Tages wie aus dem Nichts in Felling, einer kleinen katholischen Gemeinde bei Newcastle im Norden Englands, auf. Hier spielt Religion eine große Rolle. Der sonntägliche Gottesdienst, die Beichte und der regelmäßige Kontakt zum Pfarrer gehören zum Alltag der Menschen. Doch alles scheint sich zu ändern, als Stephen Rose zu seiner verrückten Tante Mary zieht. Davie sieht in ihm die geeignete Waffe im Kampf gegen den gemeingefährlichen Dorfschläger Mouldy. Als er erste Kontakte zu Stephen knüpft, ist es schon zu spät – er ahnt nicht, auf was für eine Bekanntschaft mit dem Übersinnlichen er sich da eingelassen hat ...

Viel wird in Felling über Stephen erzählt. Über seinen Großvater mit dessen Hypnosetricks, den plötzlichen Tod seines Vaters und die wahnsinnig gewordene Mutter und die schwarzen Messen und Teufelsanbetungen, die der Grund für seinen Rauswurf aus dem Priestercollege waren. Seine dunkle Vergangenheit gibt Rätsel auf und wirkt gleichzeitig faszinierend auf Davie: Stephen besitzt das Talent, Figuren aus Lehm zu schaffen und ihnen Leben einzuhauchen. Diese Macht und Kraft überträgt er auch auf Davie, denn nur zu zweit können sie ein lebensgroßes bedrohliches Monster aus Lehm schaffen, das sie beschützt und begleitet und als Racheengel gegen die gewalttätigen Alltagsgenossen dient. Anfangs schwankt Davie, und er versucht, die Distanz zu Stephen zu bewahren, doch die Tatsache, Gott spielen zu können, begeistert ihn, und er lässt sich überzeugen. So wird der „normale, naive, mit einer starken Einbildungskraft“ versehene Junge vollkommen in Stephens Bann gezogen. Dieser Macht, die von Stephen ausgeht, kann er sich nicht mehr entziehen, und gemeinsam erschaffen sie das düstere Lehmmonster, indem sie das Wesen mit dem Leib und Blut Christi zum Leben erwecken. Doch als sie erkennen, dass sie nicht Herr über das Monster sind, nimmt die Sache einen unerwarteten Lauf, und Davie verliert jeglichen Bezug zur realen Welt …

Was ist nun Wirklichkeit und was sind Fantasien? Auch als Leser weiß man nicht mehr, ob man Davie als Erzähler glauben kann, denn der mystische Wandel der Geschichte scheint sich auch in der Auflösung der anfangs zuverlässigen Erzählweise von Davie wiederzuspiegeln. Läuft der Wunsch, Gott zu spielen, aus dem Ruder – können die beiden Jungen ihr Monster noch bändigen? Das alles, ob nun wahr oder nicht, erfahren wir von Davie, der auf seinem Weg des Erwachsenwerdens auf die Freundschaft und die Unterstützung seines Umfeldes angewiesen ist. David Almond greift hier ein schwieriges Thema auf: die Erschaffung von Leben und die Entfaltung des Bösen. Viel Unheimliches bleibt ungeklärt und wird nicht aufgelöst, und so dauert es auch ein wenig, bis man als Leser in Felling angekommen ist. Doch durch die spannende und gekonnte Erzählweise sowie durch die unterschiedlichen Charaktere wird der Roman nie langweilig und irgendwann befindet man sich dann selbst in Stephen Roses Bann und kann das Buch einfach nicht beiseite legen.

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