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Titelbild
Bauer, Michael Gerard:
Running Man
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
München: Nagel & Kimche 2007
266 S.
Jugendbuch ab 12 J.

Bauer, Michael Gerard: Running Man

Am seidenen Faden

von Wiebke Groenewold (2008)

Joseph ist ein „Hasenfuß“. Davon ist jedenfalls Mrs. Mossop, die Tratschtante in seiner Wohnsiedlung, überzeugt. Und um gerade dieser Einstellung zu trotzen, trifft der Junge eine Entscheidung, die seinen Mut so manches Mal auf eine harte Probe stellt und ihm ein vollkommen neues Verständnis von Menschen und ihren Ängsten schenkt.

Ein schüchterner und eher zurückgezogener Junge, der sich in der Gegenwart Erwachsener meistens nicht wohl fühlt: Das ist Joseph. Da der Vater die längste Zeit des Jahres beruflich auf Großbaustellen im Ausland verbringt, lebt er allein mit seiner Mutter. Schon seit der Grundschulzeit fürchtet der mittlerweile 14-Jährige eine bestimmte Person: den Running Man. Dieser, einer Vogelscheuche ähnelnde Mann, läuft Tag für Tag mit gehetztem, nie still stehendem Blick durch den Ort, so als würde er von einem unsichtbaren Dämon getrieben. Viele sehen in ihm nur einen komischen Kauz, doch für Joseph liefert er den Stoff, aus dem Albträume gemacht werden.

Eines Tages wird Joseph von seiner freundlichen Nachbarin Caroline gebeten, ein Portrait von ihrem Bruder Tom Leyton anzufertigen. Um diesen ranken sich allerdings die wildesten Gerüchte, denn der Vietnam-Veteran zog nach dem Tod der Eltern überraschend wieder zu Hause bei seiner Schwester ein und hält sich dort nun mittlerweile seit über 30 Jahren verborgen. Wie die Wahrheit auch ausgesehen haben mag, sie ist bei all dem Gerede der Menschen bereits eingegangen „wie eine zarte Blume inmitten giftiger Gräser“. Nach anfänglichen Zweifeln kann sich Joseph letztlich doch zu Besuchen bei dem dubiosen Nachbarn entschließen. Er lernt ihn dabei als einen Mann kennen, der durch grausame Erfahrungen jeglichen Glauben und alle Hoffnung verloren zu haben scheint und seinen einzigen Lebenssinn in der Zucht von Seidenraupen erkennen kann. Für sein Portrait macht sich Joseph auf die Suche nach dem wahren Tom Leyton, jenem, der sich hinter dem Kokon aus Schweigsamkeit und Angst versteckt hält. Doch erst durch ihre langsam wachsende Freundschaft erlangt der Junge eine andere Wahrnehmung von seinem Gegenüber und schafft es so, diesen tatsächlich auf Papier zu bannen. Das ehrliche Abbild seiner Person liefert Tom Leyton schließlich den Schlüssel, um zu sich selbst zurückzufinden.

Michael Gerard Bauer arbeitet in „Running Man“ mit vielen unterschiedlichen Mitteln: Indem er das Ende des Buches teilweise vorwegnimmt, nämlich die Beerdigung eines Joseph nahe stehenden Mannes, und auch im weiteren Roman an verschiedenen Stellen Vorausdeutungen platziert, erzeugt er eine Spannung, die sich durch die ganze Geschichte hindurch zieht: Denn die Antwort auf die Frage nach der Identität des Toten bringen erst die letzten Seiten. Die Gefühlswelten der Akteure werden auf eine Weise geschildert, die den Leser fesselt, und es ihm unmöglich macht, nicht mit Joseph, Tom oder auch dem Running Man mitzufühlen. Der Autor bebildert sein Werk mit bekannten Kunstwerken und lässt außerdem lyrische Elemente einfließen. Der metaphorische Gebrauch eines Gedichtes über das Leben der Seidenraupe veranschaulicht in deren Metamorphose die Entwicklung Tom Leytons. Der Kokon wird dabei zum Sinnbild für dessen Zurückgezogenheit und seine Gefangenschaft in Angst, Zweifeln und Hoffnungslosigkeit.

Der Roman spricht mit uneitler Leidenschaft für Toleranz und Verständnis sowie für den Mut, hinter die Fassade des scheinbar Offensichtlichen zu blicken. Doch wird sich auch Joseph seiner größten Angst, dem Running Man, und dessen Rätsel stellen können? Denn nur wer sich traut zu „atmen“ kann auch an den Wundern des Lebens teilhaben.

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