skip to content

Titelbild
Richter, Jutta:
Hinter dem Bahnhof liegt das Meer
München u. a.: Hanser 2001
96 S., € 9,90

Richter, Jutta: Hinter dem Bahnhof liegt das Meer

Brückenbalancierer sucht Schutzengel in hellblau

von Annette Sokolowski (2004)

Neuner ist neun. Neuner ist ein Brückenbalancierer, ein Fassadenkletterer. Jede Nacht klettert er durch das offene Küchenfenster in die Wohnung seiner Mutter. Er hat gelernt, sich unsichtbar zu machen, dem neuen Freund seiner Mutter aus dem Weg zu gehen. Und dann sieht er mit an, wie „der Neue“ seine Mutter krankenhausreif schlägt. Da klettert er zum letzten Mal. Nun hat Neuner kein zu Hause mehr.

Auf der Straße trifft er auf Kosmos. Kosmos, der schon immer unterwegs ist, der alles weiß. Dieser Kosmos führt Neuner ein in eine neue Welt. Eine Welt aus gescheiterten Existenzen und Abbruchhäusern, aus überreifen Erdbeeren und dem Traum vom Meer. Von einem Kiosk am Meer träumen die beiden. Und mit dem Kiosk werden Kosmos und Neuner dann reich, ganz bestimmt.

Um ans Meer zu kommen braucht man Geld. Und Geld haben die beiden nicht. So sieht Kosmos nur eine Möglichkeit das gemeinsame Ziel zu erreichen. Er überredet Neuner dazu, sein wertvollstes Gut – seinen Schutzengel – zu verkaufen, und zwar der „Königin von Caracas“, der Besitzerin einer zwielichtigen Kneipe.

Von nun an geht für den Jungen alles schief. Sein Freund Kosmos brennt mit dem verdienten Geld durch, Neuner bekommt Heimweh und wird auch noch krank. Aber Jutta Richter hat ein modernes Märchen geschrieben, und so versteht es sich fast von selbst, dass sich am Ende alles zum Guten wendet. Die Königin ist zwar keine Königin im klassischen Sinn, stellt aber eine archetypische Figur dar, indem sie für Neuner zum (Ersatz-)Schutzengel wird: „Das gibt es gar nicht, denkt Kosmos, das kann überhaupt nicht sein. Das ist doch ... das ist die Stimme der Königin! Und jetzt öffnet sich die Tür ... Da steht sie, ganz in hellblau“.

Richter verübt wie ihr Protagonist einen Balanceakt. Auf der Grenze zwischen dem Märchenhaften und dem Realen gelingt es ihr, beide Elemente so geschickt zu verknüpfen, dass die Geschichte weder kitschig noch desillusionierend wirkt. Sie schildert sogar Problemsituationen wie den Gewaltakt an der Mutter kindgerecht und kunstvoll zugleich. Auf diese Weise lässt sie sowohl eine Lesart für den kindlichen als auch für den erwachsenen Leser zu.

Das versöhnliche, dennoch offene Ende des Werks begründet die Schriftstellerin mit ihrem Bedürfnis, sich selber Trost zu spenden, insbesondere nach dem Titel „Der Tag an dem ich lernte die Spinnen zu zähmen“, für den sie 2001 den Deutschen Jugendliteraturpreis bekam.

Mit lebendiger Sprache erzählt die Autorin von Freundschaft und Verantwortung: „Nee, denkt er. So nicht! Das kannste nicht machen. Einfach abhauen und den Kleinen in der Scheiße sitzen lassen. Auch wenn er ein Klotz am Bein ist!“ Und immer wieder entwirft sie Bilder der Sehnsucht: „[W]o Himmel und Meer zusammenstoßen, geht die Sonne unter, fällt ins Meer wie eine riesige glühende Orange.“

Leseprobe