‚Die Fantasie der Chancenlosen‘ oder Wenn die Realität gnadenlos zuschlägt
Von Magdalena Hof, Philine Emma Loudovici und Sarina Schuler (2022)
Nein, das ist kein Wohlfühlbuch und nein, das ist keine harmlose Tiergeschichte und nein, es geht auch nicht um Flausen im Kopf oder die erste Liebe, sondern es geht um eine literarische Lektion über soziale Härte, über psychische und physische Grausamkeit, über Verwahrlosung und Lieblosigkeit! In „Die Biene im Kopf“ erzählt der renommierte Dramatiker Roland Schimmelpfennig vom Alltag eines traumatisierten, sozial verwahrlosten, chancenlosen Kindes, das tatsächlich vollkommen auf sich allein gestellt ist. Es (den Namen und das Geschlecht erfahren wir nicht) wacht bereits morgens mit der Angst vor seinen alkoholabhängigen Eltern auf und versucht, ‚ohne zu stören‘, aus dem Haus zu gelangen. Doch in der Schule hören die Probleme nicht auf bzw. fangen erst richtig an. Familie und Schule bieten also keinen Schutzraum für das Kind, und zum Desinteresse und der Wut der Eltern kommen die Hänseleien und Aggressionen der Mitschüler*innen sowie die Demütigungen durch eine Lehrerin noch hinzu! Um diese und weitere Zwangssituationen zu überstehen, funktionalisiert das Kind seinen Alltag zu einem Spiel um, in welchem es mit Hilfe von Imagination von Level zu Level aufsteigen kann und so scheinbar aus schwierigen und sogar bedrohlichen Situationen entkommt – es stellt sich also vor, zu der titelgebenden Biene zu werden.
Auf insgesamt nur 73 Seiten nimmt Schimmelpfennig, ergänzt durch ausdrucksstarke Illustrationen von Barbara Jung, die Leser*innen mit auf eine Reise, auf der keine einfachen Antworten auf komplexe Problemlagen gegeben werden. Zudem erleben die Leser*innen die Geschehnisse mit dem Kind durch die ‚dramatische‘ sprachliche Gestaltung geradezu hautnah mit, wenn sie die (durchaus komplexe) Umcodierung der Wahrnehmung durch die Figur nachvollzogen haben. Dann färbt auch die Angespanntheit in den Situationen schnell ab, gerade weil uns die ‚Bienenfantasie‘ nach den ersten schockierenden Erlebnissen nicht mehr zu beruhigen vermag. Allerdings ist im Hinblick auf Kinder und Jugendliche als Adressat*innen auch zu sagen, dass in dieser klugen Erzählung Themen aufgegriffen werden, die belastend oder sogar verstörend wirken können (und sollen). Zudem liegt eine Besonderheit des Buches in der konsequenten Art und Weise, wie mit diesen Themen umgegangen wird: nämlich – trotz der Metapher von der Biene im Kopf – realistisch und ohne der Versuchung zu erliegen, einfache Antworten anzubieten, die es in den genannten Situationen und Konstellationen ebem gerade nicht geben kann. Als besonders beeindruckend ist deshalb das Vorgehen des Textes zu bezeichnen, den Hang zum Verdrängen, zum Eskapismus in der ‚Verwandlung in eine Biene‘ zu verdeutlichen.
Durch den Umgang des Buches mit zahlreichen, leider sehr realen Problemen, sollten Kinder das Buch nur in Kontexten lesen, in denen sich über die angesprochenen Themen auch begleitend ausgetauscht werden kann und in denen zudem erklärt wird, wie man sich in solchen oder ähnlichen Notfallsituation verhalten sollte oder wie man andere Kinder unterstützen bzw. wo man sich Hilfe holen könnte. „Die Biene im Kopf“ ist in diesem Sinne prädestiniert für einen Schulunterricht, der sich so schwierig zu bewältigenden Themen wie Armut, Ausgrenzung, Mobbing bin hin zu (sexualisierter) Gewalt gegen Kinder annehmen möchte und zugleich auf literar-ästhetisches Lernen setzt. (Nicht umsonst ist die Biene ja seit alters her ein Symbol für den Dichter…) Man darf diese knappe Erzählung, die auch bereits auf verschiedenen Bühnen als Drama aufgeführt wird, als einen großen kinder- und jugendliterarischen Wurf bezeichnen!
Bibliographische Daten:
Schimmelpfennig, Roland
Die Biene im Kopf
Fischerverlag (2022)
73 Seiten