Wild, Margaret: Jinx
Vers für Vers
von Annette Sokolowski (2004)
Jen „lebt mit ihrer Mutter // und ihrer Schwester Grace // in einem kleinen Reihenhaus // am Stadtrand, wo Kinder als Erstes // ‚Auto’ oder ‚Flugzeug’ sagen.“ Die Langeweile ihres Lebens nervt Jen. Sie will, dass endlich etwas passiert.
In dieser eintönigen Situation lernt sie Charlie kennen und verliebt sich in ihn. So trifft es Jen völlig unerwartet, als ihre erste Liebe sich erhängt. Das Mädchen verarbeitet den Verlust nur schwer. Dann kommt auch noch ihr zweiter Freund ums Leben, und Jen gerät vollkommen aus der Bahn. Sie glaubt, sie sei eine Unheilbringerin und ändert ihren Namen: „Jinx! Verhext.“
Jinx lässt niemanden an sich heran. Ihre Mum versucht vergeblich, ihre Tochter aufzufangen. Wir erfahren über die alleinerziehende Mutter, dass sie zusätzlich mit eigenen Problemen hadert. Die Turbulenzen einer unerwiderten Liebe unterbrechen die Routine ihres ansonsten unspektakulären Lebens, das sich hauptsächlich um Jen und Grace dreht. Die zweite Tochter, Grace, ist nicht wie andere Teenager, sie hat das Down Syndrom. Wir erleben, dass ihre kindlich naive Art Jen zwar oft annervt, dass die beiden dennoch eine innige Beziehung zueinander haben, die Grace immer wieder einen Zugang zu ihrer Schwester eröffnet: „,Jinx. Ich habe Angst.’ // Irgendwie schaffe ich es aus dem Bett // zu kriechen, // mich durchs Zimmer zu schleppen // und Grace reinzulassen.“
Margaret Wild vergegenwärtigt in „Jinx“ die tragische Geschichte eines jungen Mädchens. Dabei bedient sich die Autorin nicht eines einfachen Erzählstils, sondern rhythmisierter Prosa. Die Ereignisse werden in kurze Paragraphen eingekleidet, die in freien Versen verfasst sind. Alle haben eigenständige Überschriften, die uns verraten, aus welcher Perspektive die Geschehnisse betrachtet werden – aus der Sicht eines einzelnen Ichs: Jen/Jinx, Jens Mum, Charlie ... oder aus der Sicht eines allwissenden Erzählers. Einzelne Sequenzen betont Wild durch drehbuchartige Schilderungen oder auch durch Listen, die Jen und ihre Freundinnen gemeinschaftlich erstellen: „Was wir an unseren Müttern nicht mögen“ und „Was wir an unseren Müttern mögen“.
Mit den Freundinnen lernt der Leser weitere, von der Autorin vielschichtig gezeichnete Charaktere kennen: Bruth ist brutal ehrlich und zugleich treu wie Gold. Als Hobbygeologin klassifiziert sie sich und ihre Freundinnen nach Eigenschaften, die sie Gesteinen zuordnet. Connie stammt aus einer traditionellen griechischen Familie. Sie wünscht sich, dass ihre Eltern ihre Homosexualität akzeptieren. Serena ist cool. Sie erregt jedermanns Aufmerksamkeit, nur nicht die ihrer Eltern: „[I]ch habe einen Nasenring. // Meine Eltern haben // nur eine Woche gebraucht, um was zu merken.“ In „Jinx“ bekommt jede Figur eine eigene Stimme.
Durch die Präsentation in freien Versen und die kaleidoskopartigen Einblicke bleibt vieles unausgesprochen, wodurch der Inhalt getragen wird. Auf literarisch überzeugende Weise gelingt so die Darstellung einer Aufeinanderfolge von bestürzenden Ereignissen. Die Autorin schafft es, die Schwere der Situation durch unerwarteten Humor oder ungewöhnliche Formulierungen zu entlasten: „Mongoloid: // Dschingis-Khan-Wort // Strumpf-über-dem-Gesicht-Wort“. So wie Wild bis zum Ende, sprachlich meisterhaft, die inhaltliche Dichte beherrscht, überwindet Jen zuletzt die traumatischen Erlebnisse. Aus Jinx wird wieder Jen.