Wahl, Mats: Der lange Lauf auf ebener Erde
Auf der Suche nach sich selbst
von Claudia Opgen-Rhein, Cordula Selke und Ruth Biener (1997)
Jacob ist 16 Jahre alt. Seit der Trennung seiner Eltern lebt er mit seinem Vater, einem gut aussehenden Militärpiloten Anfang 40, zusammen. Jacob bewundert seinen Vater, dem grundsätzlich alles zu gelingen scheint: Er ist beruflich erfolgreich, souverän und glänzt in seiner Freizeit mit sportlichen Höchstleistungen. Jacobs Vater ist ein Gewinnertyp, mit „Verlierernaturen“ wie Jacobs Mutter kann er nur wenig anfangen. Seine neue Lebensgefährtin Maria ist jung und hübsch, ein gefragtes Fotomodell. Mit Zufriedenheit stellt Jacob fest, dass er seinem Vater in vielen Dingen sehr ähnlich ist. Er hat schon fast dieselbe sportliche Statur wie dieser, und wenn er will, kann er dessen Gang imitieren. Beim Laufen ist Jacob für den Vater sogar zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz geworden, da kann er sein Vorbild nicht nur erreichen, sondern sogar überrunden.
Wenn er läuft, hat Jacob auch das Gefühl, sich und sein Leben völlig im Griff zu haben, ein Gefühl, das ihm in anderen Bereichen seines Lebens fehlt. „In der letzten Zeit ist er immer öfter unzufrieden mit sich selbst, weil er sich nicht unter Kontrolle hat. Weder seinen Körper noch seine Gedanken kann er mehr kontrollieren. Manchmal hat er das Gefühl, daß in ihm drin, unter der Haut ein anderer Jacob steckt. Ein Junge, der ständig strauchelt, umgeworfen und herumgewirbelt wird, und der nicht dem kleinsten Windzug standhalten kann.“
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und dem väterlichen Vorbild sind die Hauptthemen dieses Adoleszenzromans. Ein sexuelles Erlebnis mit Maria, der wesentlich jüngeren Freundin des Vaters, löst starke Irritationen bei Jacob aus. Völlig aus dem Gleichgewicht geraten, durchlebt er eine Lebensphase, in der vertraute Beziehungen unsicher werden. Plötzlich werden Grenzen überschritten und Rollen neu definiert: Jacob ist nicht mehr ,nur’ der Sohn seines Vaters, der Vater nicht mehr nur souveränes Vorbild. Selbstbewusst stellt die Mutter Jacob ihren neuen Freund vor. Ödlan, die Jacob seit dem Kindergarten kennt, ist plötzlich mehr als nur eine Klassenkameradin.
Jacob glaubt, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Bei seinem Versuch, das Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen, begleiten ihn die Lesenden über zehn Tage. Sie betrachten dabei die Ereignisse aus der Sicht des Protagonisten und werden vertraut mit seinen Gefühlen. Dass Jacob diese nicht wirklich reflektieren kann, könnte den Eindruck erwecken, dass der Roman oberflächlich bleibt. Tatsächlich aber lädt er die Lesenden ein, sich eigene Interpretationsmuster zu bilden und gegebenenfalls die Probleme des Erwachsenwerdens auf sich selbst zu beziehen.
Mit Jacob erleben sie das Auf und Ab in der Suche nach der eigenen Identität, nach dem Sinn des Lebens überhaupt. „To be or not to be?“ ist eine der Fragen, die Jacob sich immer wieder stellt. Sie zieht sich – ähnlich wie die Metapher vom Laufen (sie wird im deutschen Titel zitiert, „Jac Uppmuntraren“, „Jacob, der Aufmunterer“, lautet der des Originals) – leitmotivisch durch den gesamten Roman. Wie bei der literarischen Bezugsfigur Hamlet ist sie geknüpft an die Frage, ob es besser sei, ein Schicksal zu erdulden oder dagegen anzukämpfen. Mit der Entscheidung, dem Vater nichts von seinem Abenteuer mit Maria zu erzählen, entschließt sich der 16-Jährige nach langem Zögern für eine aktive Bewältigung seiner Probleme: In einem Schulaufsatz schreibt er sich seine Gefühle und seine Unsicherheit von der Seele. Auch wenn er den Aufsatz später nicht abgibt, ist Jacob doch erleichtert. Ohne die Hilfe seines Vaters hat er für sich das Erlebnis mit Maria verarbeitet.
Der quälende Prozess der Lösungsfindung, der dem mühsamen Lauf auf einen Hügel gleicht, ist abgeschlossen. „Ohne zu wissen, warum, ist er mit sich selbst richtig zufrieden. Ohne weiter darüber nachzudenken, fühlt er, daß er wieder Kontrolle über sein Leben hat. Als ob er einen langgestreckten Hügel geschafft hat und nun der lange Lauf auf ebener Erde beginnt. Und er weiß, daß er lange, kräftige Beine hat und daß er gut durchtrainiert ist. Und er ist voll von dem Gefühl, das er manchmal beim Laufen hat. Er ist ganz sicher, daß er niemals müde werden wird.“ Jacob hat den ersten Schritt zum Erwachsensein und zur eigenen Identität getan.
Jacobs Geschichte ist sicher nicht die eines durchschnittlichen Jugendlichen. Auch in seinen Freunden werden sich heutige Jugendliche nicht durchgängig wiederfinden. Ihre Probleme aber sind eher zeitlos. Es sind existenzielle Lebensfragen von Heranwachsenden, mit denen Mats Wahl sich in einer klaren, schnörkellosen Sprache – die deutsche Übersetzung besorgte Maike Dörries – auseinander setzt.
Wenig zum Lesen verlockend erscheint uns jedoch die Umschlaggestaltung des Buches. Das entworfene Porträt eines Kindes entspricht nicht dem Bild der jugendlichen Hauptperson, die der Leser in der Geschichte kennen lernt. Dass zudem mit dem Balanceakt auf einem Brückengeländer eine weitere Metapher des Buches auf dem Titel bemüht wird, könnte falsche Erwartungen wecken, ist die Metaphorik in Wahls Roman doch eher ein nachrangiges Gestaltungsmittel. – Ein kleiner Schönheitsfehler an einem ansonsten durch und durch gelungenen Buch.